Todesspur
wippen mit den Köpfen im Takt.
»Hört sich gar nicht so übel an«, findet Jule. »Für eine Nachwuchsband performen sie schon ganz passabel.«
Die beiden Chormädchen, Gwen und Fiona, bewegen sich die meiste Zeit recht synchron und wirken elegant in ihren kurzen schwarzen Kleidern. Rechts hinten sieht man Olaf am Schlagzeug sitzen. Sein Haar ist länger, als Jule es von heute früh in Erinnerung hat, er trägt ein Band um die Stirn und wirkt ziemlich cool. Auch Cornelius, der Sänger, und Florian mit der Klarinette kommen professionell rüber, nur Valentin, der Trompeter, hat noch ein paar antiquierte Rockerposen drauf, wie man sie von den Scorpions kennt.
»Ich fresse einen Besen, wenn diese Gwen nicht hochgradig anorektisch ist«, murmelt Jule.
»Was ist sie?«
»Magersüchtig. Schau doch nur, Schlüsselbeine wie Kleiderhaken. Würde mich nicht wundern, wenn sie sich auch ritzt. Dieser Kapuzenpulli mit den langen Ärmeln kam mir jedenfalls verdächtig vor.«
»Vielleicht war ihr nur kalt«, meint Fernando und nimmt den Kopfhörer aus dem Ohr.
Jule legt einen abgenagten Olivenkern auf ihren Tellerrand. »Jedenfalls wollte keiner freiwillig was über Olaf erzählen. Komisch, oder?«
»Vielleicht war er ein Arschloch.«
»Fernando! Was für Ausdrücke!«, kommt es missbilligend aus dem Hintergrund. Pedra hat sich unbemerkt wieder in den Laden geschlichen. Jule klickt den Auftritt der Grizzlys weg und meint: »Der Begriff Freundschaft schien sie jedenfalls zu überfordern. Aber ich wette, jeder von ihnen hat dreihundert ›Freunde‹ auf Facebook.«
»Die waren mir alle miteinander nicht symphatisch«, gibt Fernando zu. »Verwöhnte Wohlstandsblagen.«
»Das ist die Elite von morgen. Eines Tages werden die uns mal regieren«, prophezeit Jule scherzhaft. »Andererseits – Leute, die wirklich viel Geld haben, schicken ihre Kinder heute wieder auf Privatschulen, um ihnen die Aussichten auf die besten Jobs zu sichern. Und weil sie die Nase voll haben von Unterrichtsausfall, Turbo-Abi und Mobbing auf dem Schulhof.«
»Die armen Kleinen«, höhnt Fernando.
Jule wechselt das Thema: »Kennst du eigentlich diesen Rapper aus Hainholz, den eines der Mädchen erwähnt hat?«
»Oumra. Ja, vom Hörensagen. Er brüstet sich damit, dass seine Texte nicht Gewalt verherrlichend und sexistisch seien. Stattdessen singt er von der Liebe und dem Elend in Afrika.« Fernando rümpft die Nase. »Ich steh zwar generell nicht auf Hip-Hop, aber für mich klingt ›gewaltfreier Rap‹ ein bisschen wie ›koffeinfreier Espresso‹. Ach ja – willst du auch einen Kaffee?«
»Klar.«
Fernando geht hinter die Kühltheke und hantiert an der Kaffeemaschine herum, misstrauisch beäugt von seiner Mutter. »Mach sie nicht kaputt, Nando! Zerr nicht so am Hebel! Weniger Dampf, gleich fliegt hier alles in die Luft! Ah, geh weg, lass mich das machen!«
»Nein, ich kann das«, erwidert Fernando trotzig wie ein Dreijähriger und schiebt seine Mutter beiseite. Stolz balanciert er kurz darauf zwei Tassen Kaffee mit je einem Berg Milchschaum obendrauf an den Bistrotisch. »Ist dir aufgefallen, wie dieses eine Mädchen, diese Fiona, angezogen war?« Er wirft einen Blick hinter die Theke und flüstert: »Wie eine Nutte!«
»Die liefen doch fast alle so rum«, entgegnet Jule. Sie hat sich beim Gang durch das Schulgebäude die Mädchen angesehen, die vom Pausenhof kamen: viele sehr kurze Röcke und tief sitzende Hüftjeans, die Teile von Stringtangas offenbarten. »Ich möchte nicht wissen, wie der Dresscode an deiner alten Schule inzwischen aussieht.«
Fernando, der die Lindener Schüler jeden Morgen auf dem Weg zur Straßenbahn zu sehen bekommt, muss zugeben: »Nicht viel anders. Bei denen sind die Strumpfhosen noch dazu zerrissen, und sie haben mehr Blech im Gesicht. Das ist die eine Hälfte – die andere trägt Kopftücher.«
»Nando war ein sehr fauler Schüler«, mischt sich Pedra Rodriguez in die Unterhaltung ein. »Er hat oft geschwänzt und sehr viel Blödsinn gemacht. Deshalb ist er auch zwei Mal sitzen geblieben!«
»Mama, das interessiert doch jetzt keinen!«
»Doch, doch«, grinst Jule.
»Ich bin nur sitzen geblieben, weil mich die Lehrer nicht mochten!«
»Komm mir jetzt bloß nicht mit der Leier vom benachteiligten Gastarbeiterkind«, fährt Jule dazwischen. »Du bist sitzen geblieben, weil du ein notorischer Schulschwänzer warst, der lieber an seiner Karriere als Kleinkrimineller gebastelt hat.« Und weil es zum
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