Todesspur
diese Riesenrazzia: Hunderte von Polizisten haben die Puffs in ganz Norddeutschland auseinandergenommen. Da war die Hölle los aufm Kiez. Ich fand es eigentlich ganz gut, dass danach erst mal die ganzen Illegalen weg waren, wenigstens für eine Weile. Aber einige Leute haben ein paar Jahre lang gesessen. Sogar Niko kriegte sechs Monate wegen Zuhälterei und Körperverletzung, obwohl der doch gar nicht verantwortlich war, der war doch nur angestellt, der hat bloß gemacht, was man ihm gesagt hat. Aber mitgefangen, mitgehangen, so läuft das eben. Seitdem wird der Kiez immer mehr zur Spaßmeile nach dem Motto: fressen, feiern, ficken. Im Little Italy hocken die Unterweltgrößen zusammen mit der Schickeria aus Politik und Wirtschaft, die ganze Maschsee-Mafia und ihr Dunstkreis, die Künstler, die Journalisten … Ist ja auch so schön verrucht, seine Scampi in Gesellschaft der Unterwelt zu essen. Manche behaupten sogar, Hannover hätte das netteste Rotlichtviertel von ganz Deutschland. Aber Leute wie Niko und ich sind dabei auf der Strecke geblieben. Das Milieu verzeiht keine Fehler.« Stella gießt ihren Kummer mit einem dritten Wodka hinunter. Danach scheint sie wieder im Hier und Jetzt angekommen zu sein, denn sie fragt: »Vor der Kreuzkirche, sagen Sie? Was hatte der denn abends vor einer Kirche verloren, das ist doch wohl ein Witz!«
»Das wüssten wir auch gerne«, antwortet Jule. »Hat er wirklich nicht gesagt, was er vorhatte?«
Kopfschütteln.
»Hatte er vielleicht Ärger mit gewissen einflussreichen Leuten?«
»Mit den Angels , meinen Sie? Nein. Er war ja nicht bescheuert.« Stellas Blick wandert nachdenklich zum Fenster hinaus. Auch Fernando, der am Kühlschrank lehnt, betrachtet die Aussicht. Man kann hier im zweiten Stock durch die Büsche, die auf einem verwilderten Grundstück stehen, die Rückseite des Musikzentrums erkennen. Olaf Döhrings Leiche lag gestern früh nur einen Block weiter. Seltsamer Zufall.
Das Ergebnis von Stellas Kopfarbeit ist nicht angenehm: »Jetzt muss ich ja wohl aus der Wohnung raus, oder? Ich steh doch gar nicht im Mietvertrag, die Bude läuft doch auf Niko. Was wird denn jetzt aus mir?« Sie sieht Fernando, dem sie anscheinend die Lösung solcher existenziellen Lebensfragen eher zutraut als Jule, mit angstgeweiteten Augen an.
»Hatte er vielleicht eine Lebensversicherung?«, fragt Fernando.
»Keine Ahnung.«
»Dürfen wir mal seine Unterlagen sehen? Vielleicht finden wir ja was«, schlägt Jule vor.
»Drüben. Diese Rumpelkammer, die er sein Arbeitszimmer nennt.«
Zwischen Putzeimern, Katzenstreu und einem eingeklappten Bügelbrett steht ein Schreibtisch, bedeckt mit allerlei Papierkram. Rechnungen, Mahnungen, Werbesendungen, eine Zeitung … Kein Computer?
»Nein, so was hat der nicht«, bestätigt Stella, während Jule das Durcheinander betrachtet. Womit soll man da anfangen? Am besten alles einpacken. Stella scheint nichts dagegen zu haben, sie gibt Jule sogar eine zerknitterte Plastiktüte.
»Hatte Niko Verwandte?«, fragt Jule.
Stella verneint.
»Dann müssten Sie ihn identifizieren, im Rechtsmedizinischen Institut. Meinen Sie, Sie schaffen das?«
Stella nickt. »Und wie komm ich da hin?«
»Wir können Sie hinbringen.«
»Jetzt gleich?«
»Heute Nachmittag. Ich rufe Sie vorher an. Und ich glaube, Ihre Katze hat Hunger.«
»Es ist ein Kater, und der gehört Niko. Den können Sie gleich ins Tierheim bringen. Ich hab kein Geld, das Vieh durchzufüttern.«
»Müssen wir die Alte in die MHH fahren? Kann sie da nicht alleine hin?«, mault Fernando, als sie in Jules Wagen steigen.
»Die Frau hat doch nicht mal genug Geld für die Straßenbahn. Und dann findet sie es womöglich nicht … «
»Hast du mal das Handy gecheckt?«, fragt Fernando.
»Nein. Mach du, ich muss noch mal kurz da rein.« Jule drückt ihm das Telefon in die Hand und zeigt auf den Supermarkt gegenüber.
»Ich dachte, du setzt keinen Fuß in so einen Laden«, wundert sich Fernando.
»Es gibt Ausnahmen.«
Kopfschüttelnd lehnt sich Fernando ans Auto und geht die Anruflisten durch, während Jule im Lidl -Markt verschwindet. Fünf Minuten später kommt sie mit einer vollen Plastiktüte auf dem Arm wieder heraus. Sie würdigt Fernando keines Blickes, klingelt sich wieder in Stellas Haus rein und ist eine Minute später wieder da – ohne Tüte.
»Kein Kommentar«, sagt sie warnend zu Fernando, während sie in den Wagen steigen. Der grinst nur.
»Wohin jetzt?«, fragt Jule.
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