Todesträume am Montparnasse - Ein Fall für Kommissar LaBréa
sah, dass das nur gespielt war. In diesem Viertel waren Mord und andere Gewalttätigkeiten
an der Tagesordnung, die Leute wirkten abgebrüht.
LaBréa antwortete nicht. Er ging zu den Männern an den Nähmaschinen und der Frau am Bügelbrett und zeigte ihnen ebenfalls das Foto. Sie sahen nur flüchtig hin und schüttelten den Kopf. LaBréa ahnte, dass sie kein Wort Französisch sprachen. Selbst wenn sie den Mann gekannt hätten, hätten sie es verschwiegen.
Er fragte nach der Wohnung von Hortense Vignal und beschrieb die Frau. Der Patron grinste.
»Ah, Monsieur le Commissaire, die Motorradbräute! Ja, verstehe. Gehen Sie in den zweiten Hof, dann links die metallene Wendeltreppe außen hoch. Die Damen wohnen im ersten Stock.« Sein Französisch war akzentfrei. Obwohl LaBréa nicht gesagt hatte, dass sie von der Polizei waren, hatte der Mann sie gleich richtig eingeschätzt. Die Menschen in diesem Viertel hatten ein feines Gespür für die Hüter des Gesetzes.
Vor dem Quergebäude im zweiten Hof standen unter einer hölzernen Überdachung zwei Motorräder: das Oldtimer-Modell von letzter Nacht und eine moderne Maschine in glänzendem Metallicrot.
Die Wendeltreppe einige Meter weiter links führte bis zum Dachgeschoss. Sie war vereist und gefährlich glatt. Vorsichtig stiegen Claudine und LaBréa in den ersten Stock. Dort stießen sie auf eine Metalltür und
einen Klingelknopf ohne Namensschild. Claudine klingelte. Nach einer Weile hörte man schwere Schritte. Die Tür wurde geöffnet. Eine etwa dreiundzwanzigjährige Frau mit blonder Igelfrisur, grün gefärbter Haarsträhne, gepiercten Augenbrauen und einer filterlosen Zigarette in der Hand musterte die beiden von oben bis unten. Sie trug ein schwarzes Sweatshirt mit dem Schriftzug »Die Hölle, das sind die anderen« , Jeans und Doc Martens mit Stahlkappen.
»Ja?«, fragte sie. »Was wollen Sie?« Ihr misstrauischer Blick wanderte von Claudine zu LaBréa und zurück.
»Polizei.« LaBréa zeigte seinen Dienstausweis. »Hier in der Nähe ist heute früh die Leiche eines Mannes gefunden worden. Mord. Wir haben ein paar Routinefragen.«
Die Frau zögerte. Jetzt war von hinten eine kräftige Stimme zu hören. »Justine, was ist denn los, wer ist da?«
Schritte näherten sich der Tür. Kurz darauf erschien Hortense Vignal. Unverkennbar ihre groben Gesichtszüge, der kleine Ohrring, ihr feindseliger Blick, ihr Outfit bestehend aus Motorradlederhose und Doc-Martens-Stiefeln. Sie trug ein weißes Unterhemd. LaBréa stellte fest, dass sie kaum Busen hatte und dass ihre Oberarmmuskeln die eines Bodybuilders waren.
»Die Bullen«, sagte die Igelfrisur. »Irgendein Typ ist ermordet worden.«
»Können wir reinkommen?«, fragte Claudine und trat einen Schritt nach vorn. Hortense Vignal versperrte ihr den Zutritt.
»Wieso? Wir haben nichts damit zu tun. Außerdem muss ich gleich weg.«
»Es dauert nicht lange«, meinte LaBréa. »Wir wollen Ihnen nur ein Foto zeigen. Wer wohnt außer Ihnen noch hier?«
»Das geht Sie einen Scheißdreck an. Wir kennen keinen Typen, der ermordet wurde. Ohne entsprechenden Durchsuchungsbefehl kommt hier keiner rein.« Sie knallte die Tür zu. Die Schritte der beiden Frauen entfernten sich.
Claudine konnte sich kaum ein Grinsen verkneifen.
»Tja, da beißen wir wohl auf Granit, Chef. Sehen wir uns wenigstens die Motorräder mal näher an.«
Sie stiegen die Treppe hinunter.
Kaum waren sie unten angekommen, klingelte LaBréas Handy. Es war Brigadier Valdez, der vom Quai des Orfèvres anrief.
»Commissaire, eben kam ein Anruf vom Kommissariat des Zwanzigsten Arrondissements. Diese Sprayerweiber haben wieder zugeschlagen.«
»Was?« LaBréa war wie elektrisiert.
»Gestern Mittag wurde eine junge Frau in ihrer Wohnung Boulevard Menilmontant vergewaltigt. Und zwar von ihrem Exehemann Paul Ducros. Die Frau
hat sich vor drei Monaten scheiden lassen. Der Kerl hatte sie misshandelt und geschlagen. Er zog nach der Scheidung aus der gemeinsamen Wohnung aus und mietete ein Einzimmerappartement einige Straßen weiter. Aber er hat seiner Exfrau ständig aufgelauert und sie bedroht.«
»Hat die Frau nicht die Polizei verständigt?«
Valdez druckste herum. »Doch, hat sie. Aber die Kollegen haben die Sache wohl nicht so ernst genommen. Kurz und gut, gestern Mittag verschaffte sich der Kerl Einlass in ihre Wohnung und fiel über sie her. Die Frau ging anschließend gleich ins Krankenhaus Tenon und ließ einen Scheidenabstrich machen. Dann
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