Todesträume am Montparnasse
LaBréa schemenhaft, wie seine Gestalt vom Schneegestöber verschluckt wurde.
»Giraffe, Cul de Tigre«, murmelte Franck und schüttelte den Kopf. »Scheint ja ein ganzer Zoo zu sein. Wie sich der Kleine wohl in einigen Jahren nennen wird? Wenn er es geschafft hat, die Karriereleiter in der Szene raufzuklettern. Aber vielleicht hängt er auch mit siebzehn, achtzehn selbst an der Nadel und hat Aids im Endstadium. Wenn er sich nicht schon den goldenen Schuss gesetzt hat.«
LaBréa ging nicht darauf ein. Der Junge hatte ihnen wichtige Informationen geliefert, und nur das zählte im Moment. Der unbekannte Tote hatte von einem Freund finanzielle Unterstützung erhalten, und dieser Freund war niemand anderes gewesen als Pascal Masson, das erste Opfer. Masson musste entsprechende finanzielle Dispositionen getroffen haben, bevor er seine Haftstrafe antrat. In Massons Wohnung war kein Hinweis darauf gefunden worden, dass der ehemalige Legionär ein privates Bankkonto gehabt hatte. Es gab nur ein Geschäftskonto
für die Autowerkstatt. Vermutlich hatte Masson seinem Kumpel vor Antritt der Strafe Bargeld zukommen lassen, von dem heute Morgen noch siebenhundertachtzig Euro in der Spinnerei gefunden worden waren.
»Kontaktieren Sie mal die Kollegen vom Drogendezernat. Die kennen sich in der Drogenszene aus und haben dort Undercoverleute. Mal sehen, ob die mit den Namen Giraffe und Cul de Tigre was anfangen können.«
LaBréas Handy klingelte. Auf dem Display erschien keine Nummer.
»Ja?«
»Hier ist Christine Payan. Mir wurde gesagt, dass ich Sie dringend zurückrufen soll. Worum geht es, Commissaire?«
»Ich hätte da noch einige Fragen, Madame Payan. Wenn es Ihnen passt, würde ich gern heute noch bei Ihnen vorbeikommen.«
Am anderen Ende herrschte einen Moment Stille. »Es passt mir leider nicht. Ich bin auf dem Weg nach Orléans, zu meiner kranken Mutter. Erst in ein paar Tagen komme ich nach Paris zurück.« Es klang wie eine Ausrede. Die Psychologin wollte ihn abwimmeln. LaBréa räusperte sich.
»Aber eine Frage könnten Sie mir sicher jetzt schon beantworten: Mir ist bekannt, dass Sie einige Jahre im Ausland gelebt haben. Unter anderem auch in Osteuropa. In welchem Land?«
»Wieso interessiert Sie das, Commissaire?« Die Stimme der Psychologin klang abweisend. »Wir leben in einem freien Land, und ich kann privat und beruflich verreisen, wohin ich will. Ohne die Polizei darüber zu informieren, auch nicht im Nachhinein. Auf Wiederhören.« Das Gespräch war beendet, und LaBréa bemühte sich, seinen Ärger herunterzuschlucken.
Die nächste Stunde verbrachten Franck und LaBréa damit, sich die Räume über der Fabrikhalle noch einmal gründlich vorzunehmen. Die Suche verlief ergebnislos. Sie fanden nichts, was für die Ermittlungen von Belang sein konnte. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten ganze Arbeit geleistet.
Danach gingen sie hinunter in die Halle. Auf den riesigen Maschinen lagen dicke Staubschichten. Sie blickten in alte Spinnkannen und Container. Manche enthielten noch große Garnrollen und Werkzeug, das offenbar zur Wartung der Maschinen benutzt worden war. Es gab verblasste Farbskalen und ein altes Bilanzbuch aus dem Jahr 1953. LaBréa sah lange Zahlenkolonnen in gestochener Bleistiftschrift.
Nachdem sie auch den letzten Winkel der Halle durchsucht hatten, gaben die beiden Beamten auf. Sie verließen das Gebäude, und Franck erneuerte das Polizeisiegel an der Tür. Dichtes Schneegestöber und ein eisiger Wind schlugen ihnen entgegen.
Sie überquerten den Hof, zwei schemenhafte Gestalten in einer unwirklichen Landschaft.
14. KAPITEL
LaBréa spürte seine Füße kaum noch, so kalt war es. Franck startete den Wagen und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Langsam rollte der Renault über den Fabrikhof.
LaBréas Handy klingelte. Es war Jocelyn Borel. Überrascht fragte sich LaBréa, woher sie seine Handynummer kannte. Hatte sie etwa Jenny gefragt? Jocelyn unterrichtete zwar nur die höheren Klassen in Jennys Schule, aber sie kannte das Mädchen natürlich.
»Maurice«, ertönte Jocelyns warme Stimme. »Wie geht es dir?«
LaBréa warf einen schnellen Seitenblick auf Franck und sagte betont kühl.
»Danke, so là là. Viel Arbeit.«
Jocelyn lachte leise. »Ach so, verstehe. Du kannst jetzt schlecht reden.«
»Ja, genau. Der Moment ist nicht gerade günstig. Ich rufe dich später zurück.«
»Wirklich?«, gurrte Jocelyn. »Oder willst du mich nur wieder abwimmeln?«
»Nein,
Weitere Kostenlose Bücher