Todeswatt
Aber bevor Marlene den Arbeitsplatz und Marcel Petersens Kollegen genauer unter die Lupe nahm, beschloss sie, sich zunächst bei einer Tasse Tee in Ruhe zu überlegen, wie sie genau vorgehen wollte. Normalerweise sprachen Tom, Haie und sie derartige Aktionen vorher miteinander ab, aber diesmal würde Marlene allein einen Plan austüfteln.
Sie setzte sich in ein kleines Café im Schlossgang und bestellte einen Pfefferminztee. Die kleine Gaststube war urig eingerichtet, in der Mitte des Raumes stand ein großer Kachelofen und viele liebevolle Details verliehen dem Salon einen ganz eigenen Charme. Dem ungeachtet saß Marlene an einem Tisch direkt am Fenster und schrieb sich einige Notizen auf einen Block, den sie stets in ihrer Handtasche mit sich trug.
»So, hier ist der Tee, die Dame.« Die Bedienung stellte ein kleines Tablett auf den Tisch. »Muss aber noch mindestens fünf Minuten ziehen.«
Der heiße Wasserdampf, der aus der Tülle der filigranen Teekanne stieg, zog wellenartig gen Zimmerdecke. Marlene betrachtete die beinahe durchsichtigen Schwaden und fühlte sich augenblicklich an das gestrige Gespräch erinnert. Nachdem Marcel Petersen sie in seine Wohnung gebeten hatte, die über eine schmale Holztreppe zu erreichen war, hatte er ihr im Wohnzimmer einen Platz auf einem durchgesessenen Stoffsofa angeboten. Der Raum wirkte ebenso ungepflegt wie der junge Mann. Auf einem niedrigen Tisch, der mit Glasrändern und sonstigen Abdrücken übersät war, stand ein überquellender Aschenbecher, der einen äußerst unappetitlichen Geruch verströmte. Petersen klaubte einige Kleidungsstücke von einem Ohrensessel, warf sie achtlos auf den Boden und setzte sich ihr gegenüber.
»So, Sie wollten also mit mir über Arne Lorenzen sprechen«, bemerkte er, während er sich eine Zigarette anzündete und sie ungeniert musterte.
Marlene nickte und brachte, wie mit Tom und Haie abgesprochen, die Begründung vor, sie sei eine Freundin des toten Bankers und sehr verwundert über seinen Nachruf. »Ich frage mich, wie Sie einfach solch pietätlose Zeilen über Arne schreiben konnten.« Sie versuchte, ihrer angeblichen Entrüstung Nachdruck zu verleihen, indem sie sich kerzengerade aufrichtete.
»Pietätlos?« Petersen sprang auf und drückte seine Zigarette mit hektischen Bewegungen in dem übervollen Aschenbecher aus. »Ich habe nur die Wahrheit gesagt.« Er ging hinüber zum Fenster und sah hinaus. Sein Brustkorb hob und senkte sich in schnellem Rhythmus.
»Die Wahrheit«, hakte sie nach. »Haben Sie ihn denn überhaupt gekannt?«
Statt zu antworten, stellte er eine Gegenfrage. »Und Sie?« Er hatte sich umgedreht und nahm sie direkt ins Visier.
Marlene schluckte. Kannte der Reporter den toten Anlageberater vielleicht doch besser, als sie gedacht hatten? War ihre Tarnung aufgeflogen?
Aber anstatt ihre Erklärung abzuwarten, bombardierte er sie mit Beschimpfungen über den Banker. Was für ein Arschloch er gewesen sei. Ein Betrüger, verlogen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Seiner Oma habe er ihre gesamten Ersparnisse abgeluchst. In Aktien angelegt. Hochspekulativ. Die alte Dame hätte gar nicht gewusst, was sie da unterschrieben hatte. Wie risikoreich das sei.
»Aber warum haben Sie ihn dann nicht angezeigt, sondern nach seinem Tod diese beleidigenden Zeilen geschrieben?«
»Weil ich erst letzte Woche davon erfahren habe.« Die Großmutter wollte angeblich seiner Cousine zur Konfirmation ein wenig Geld schenken. Wie es halt so üblich sei. Aber ihr Konto war leer. Kein Guthaben mehr. Da hatte sie ihn gebeten, mit dem Berater wegen der Papiere zu sprechen und bei dieser Gelegenheit habe er gesehen, wo das Geld seiner Oma geblieben war. »Neuer Markt! Und alle Kurse im Keller. Nur der feine Herr Lorenzen hat natürlich einen auf dicken Macker gemacht.« Marcel Petersen trat auf Marlene zu. Sein Gesicht war rot angelaufen, seine Augen sprühten vor Wut.
»Ich muss dann mal los«, Marlene stand abrupt auf. Kleine kalte Schauer rieselten über ihren Rücken, sie bekam es mit der Angst zu tun. »Meine Freundin wartet unten auf mich.«
»Ach, die Wahrheit willst du wohl nicht hören, hm?« Er kam noch einen Schritt dichter. Ihr kroch sein schlechter Atem in die Nase, eine Mischung aus Zigarettenrauch, Alkohol und tagelang vernachlässigter Mundhygiene.
»Doch, doch«, stammelte sie und bewegte sich langsam rückwärts zur Wohnzimmertür, »aber meine Freundin …« Mit der Hand deutete sie zum Fenster, ehe sie den Raum
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