Todeszauber
sicheres Grab. Kein Mensch wird den Toten zufällig entdecken, kein wilder Hund kann ihn ausscharren. Die Natur selbst sorgt für einen betonharten Überzug. Dort also liegt Jeffery Anderson, und vermutlich auch seine Stockpeitsche und die Halsleine des Pferdes. Dieser Mann hat zu seinen Lebzeiten viel Böses getan. Würde es da wirklich der Gerechtigkeit dienen, wenn ich nun denjenigen, der ihn in Notwehr tötete, vor Gericht bringe?«
Langsam, mit unsicheren Schritten ging Bony zum Lager zurück und brühte sich einen schwachen Tee auf. Er gab etwas Milch hinzu und schlürfte ihn bedächtig.
Nachdem er sich eine Stunde niedergelegt hatte, sattelte er die Stute und saß mit Hilfe eines Baumstumpfes auf. Das Pferd trottete zunächst zum Trog, wo es seinen Durst stillte. Ein Gefühl der Zufriedenheit überkam Bony. Die Sonne stand schon tief im Westen, die ersten Vögel kamen zur Tränke, doch er sah nicht, was um ihn herum geschah. Er plante den dramatischen Abschluß dieses Falles. Er ritt nicht zum Lager zurück, sondern folgte der Straße, die zum Herrenhaus von Karwir führte. Als Bony aus seinen Gedanken aufwachte, befand er sich in der Mitte der Niederungen beim südlichen Eckpfosten des Grenzzauns.
An diesem heißen Nachmittag lag die Luftspiegelung tief über den Niederungen. Büsche wirkten wie gigantische Bäume und kleine Bodenwellen wie hohe Klippen. Plötzlich bemerkte Bony zahlreiche Staubfahnen, die sich aus der Luftspiegelung lösten, und alle diese Staubfahnen näherten sich dem Grenzzaun.
In der Ferne stieg ein gelblicher Dunst aus der Fata Morgana. Bony ritt zum Zaun, um dieses Phänomen besser beobachten zu können. Aus der flimmernden See der Luftspiegelung tauchten bräunliche Stöcke auf, schienen durch das flache Wasser dem trockenen Land zuzustreben. Paarweise bewegten sich diese Stöcke, ragten immer höher aus dem ›Wasser‹. Dann erschienen unter den Stöcken kleine braune Köpfe, und Bony sah zu seinem Erstaunen, daß es Kaninchen waren.
Sie strebten der Bodenerhebung zu, auf der sich Bony befand. Das erste Kaninchen rannte gegen den Maschendraht, wurde zurückgeworfen, doch immer wieder sprang es gegen das Hindernis an. Noch vor einer Minute hatte sich auf der anderen Seite des Zauns nichts geregt, jetzt aber standen dort zahllose Kaninchen auf den Hinterläufen, stießen mit den Schnauzen gegen den Maschendraht und versuchten sogar, ihn durchzunagen. Unaufhörlich tauchten neue Kaninchen aus der flimmernden Luftspiegelung auf.
In der Ferne aber stieg der gelbliche Staub immer höher, und die tiefe Stille, die trotz des hektischen Treibens herrschte, wurde fast körperlich spürbar.
23
Noch nie zuvor hatte Inspektor Bonaparte eine solche Massenwanderung von Kaninchen beobachtet. Allerdings hatte er einmal mit einem Mann am Lagerfeuer gesessen, der am Grenzzaun zwischen Südaustralien und Neusüdwales einen derartigen Ansturm von Kaninchen erlebt hatte. Auf einer Länge von vierzig Meilen hatten sich schließlich die Kadaver aufgetürmt. Und nun strömten die Kaninchen vom Meenasee zu der Ecke des Maschendrahtzaunes, an der Bony seinen Beobachtungsposten bezogen hatte.
Normalerweise leben die Kaninchen in ständiger Furcht vor ihren natürlichen Feinden: Menschen, Hunden, Füchsen und Adlern. Da ihnen außer Krallen und Zähnen keine Waffen zur Verfügung stehen, greifen sie andere Tiere niemals, sich gegenseitig nur höchst selten an.
Rings um den Meenasee war ein Heer von Kaninchen geboren worden. Als dann die erste Dürreperiode kam, als Pflanzen und Büsche verdorrten, versammelten sich die Tiere an den Ufern des ausgetrockneten Sees. Nachdem schließlich auch der letzte Tropfen Wasser verdunstet war, vermehrten sich die Nager nicht mehr, doch trotz der immer zahlreicher auftauchenden Feinde verringerte sich ihre Zahl auch nicht. Dann kam der Aprilregen, in dem Jeffery Anderson verschwand, es begann überall zu grünen, und die Kaninchen vermehrten sich ins Unermeßliche.
Mit neun Wochen paarten sich die jungen Häsinnen, und jeder Wurf – bei denen wiederum die weiblichen Tiere überwogen – bestand aus 5 bis 7 Jungtieren. So warf in der Zeit von April bis September jede Häsin im Durchschnitt 12 Jungtiere.
Im Oktober setzte dann ein schonungsloser Kampf um die immer spärlicher werdende Nahrung und gegen die immer zahlreicher auftretenden natürlichen Feinde ein. Nur die kräftigsten Jungtiere überlebten, und doch war nicht zu erkennen, daß die
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