Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
starr sitzen. Der glühende Klumpen in ihrem Magen war verschwunden, sie fühlte sich auf einmal vollkommen leer.
Charlotte blickte zu Heinz Funke, dann zurück zu Ursula Funke.
Sie empfand für diese beiden Menschen in dem Moment nur kalte Verachtung. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, was das Verhalten der Eltern damals bei ihrer Mutter angerichtet haben musste. Möglicherweise beschönigte ihre Großmutter das Ganze auch noch. Wie hatte ihre Mutter das alles bloß überstanden?
Dann drängte sich eine andere Frage in den Vordergrund: Warum hatte ihre Mutter sich letztlich doch dafür entschieden, sie zur Welt zu bringen und zu behalten?
Leichter war ihre Situation dadurch bestimmt nicht geworden. Und sie hatte wissen oder zumindest mit der Zeit bemerken müssen, dass sie ihrer Tochter niemals eine normale Mutter sein konnte.
Hatte sie jedes Mal an die Qualen der Vergewaltigung zurückdenken müssen, wenn sie ihre Tochter angesehen hatte? Gab es irgendetwas an Charlotte, das sie unweigerlich an ihren Peiniger erinnert hatte? Wie viel musste es sie gekostet haben, sie aufzuziehen?
Charlotte spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Es gab so viele Fragen, die nur ihre Mutter hätte beantworten können.
Charlotte war aufgewühlt, verwirrt und erschöpft. Sie war nach Herzheim aufgebrochen, um Antworten zu bekommen. Jetzt fragte sie sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Ursula Funke schluchzte noch immer. Heinz Funke starrte nach wie vor scheinbar unbeteiligt aus dem Fenster.
Charlotte wollte weg. Von einer Sekunde zur anderen wurde sie von einem drängenden Fluchtimpuls ergriffen. Sie konnte nicht länger hierbleiben.
Sie stand auf.
Sie wusste nicht, ob sie jemals zurückkehren, ob sie sich jemals den Funkes offenbaren und ihnen die Gewissheit geben würde, nach der sich zumindest ihre Großmutter zu sehnen schien. Noch konnte sie nicht einschätzen, wie sie zu ihnen stehen würde, wenn sie die ganze Wahrheit erst einmal verdaut hatte.
Und das konnte dauern.
»Entschuldigen Sie, ich muss … « Sie unterbrach sich. Wieso sollte sie diesen beiden Menschen etwas erklären? Sie war ihnen keine Rechenschaft schuldig. Nicht die geringste.
Charlotte ging durch den Flur auf die Wohnungstür zu.
Irritiert blieb sie plötzlich stehen. Sie war an der geöffneten Schlafzimmertür vorbeigegangen und hatte aus dem Augenwinkel heraus etwas gesehen, das erst zwei Sekunden später in ihr Bewusstsein vorgedrungen war.
Sie machte zwei Schritte zurück. Ursula Funke musste die Tür zum Schlafzimmer offen gelassen haben, als sie den zusätzlichen Stuhl geholt hatte.
Charlottes Blick heftete sich auf ein Bild, das in einem schäbig wirkenden Holzrahmen über einer alten Kommode hing. Ihr wurde augenblicklich eiskalt, und ein leichtes Zittern bemächtigte sich ihrer Hände.
Sie kannte das Bild. Auch wenn sie es bisher nur als Skizze des Grauens gesehen hatte, eingeritzt in die Haut ihrer Mutter. Der Baum mit den Früchten, der junge Knabe in den Ästen, Mann und Frau, die zu beiden Seiten des Stammes knieten.
Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn, und neuerliche Übelkeit stieg in ihr hoch.
Entführt. Einige Tage festgehalten. Vergewaltigt. Getötet.
Sie hörte entfernt die Stimme von Kriminaloberkommissarin Leitner in ihrem Kopf.
Er hat sich Ihrer Mutter auf besondere Art und Weise gewidmet. Wir glauben, dass Ihre Mutter eine besondere Bedeutung für den Mörder hatte.
Dann Ursula Funke, die sagte, Lena sei davon überzeugt gewesen, dass der Kerl sie hatte umbringen wollen.
Charlotte bemerkte erst, dass sie hyperventilierte, als ihre Großmutter ihren Arm berührte.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
Sie deutete auf das Bild. »Woher haben Sie das Gemälde?«
»Was?« Ursula Funke verstand nicht sofort.
»Dieses Gemälde? Wissen Sie, wer das gemalt hat?«
Ihre Großmutter war von ihrem Interesse an dem Bild offenbar überrascht, antwortete jedoch schließlich: »Oh, das stammt von einem Maler, der früher hier in Herzheim gelebt hat.«
»Und wie hieß er?« Charlotte verspürte den Drang, die Frau an den Schultern zu packen und zu schütteln. Aber Ursula Funke hatte ja auch nicht die geringste Ahnung, worum es hier ging.
»Lauer, glaube ich. Ja, Klaus Lauer.«
»Und wo wohnt er jetzt? Wissen Sie irgendetwas über ihn?«, fragte Charlotte hastig.
»Er ist 1985 verstorben. Kam bei einem Brand in seinem Haus ums Leben.« Ursula nickte, als die Erinnerung zu ihr
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