Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
sondern eher einen kränklichen, gebeugten Eindruck. Sie musterte Charlotte mit strengen Falten um die Mundwinkel, gleichzeitig spiegelten ihre Augen gespannte Neugier.
Charlotte reichte ihr die Hand. Ihr Verstand sagte ihr, dass diese Frau aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Großmutter war, doch sie fühlte nicht den Hauch einer Bindung. »Ich bin froh, dass Sie sich etwas Zeit für mich nehmen.«
Ursula Funke nickte nur und bat sie herein.
Die Wohnung war klein. Von dem engen Flur gingen vier Türen ab, von denen zwei offen standen und den Blick in eine enge Küche und ein kleines Wohnzimmer freigaben. Die Wohnung machte einen gepflegten und aufgeräumten Eindruck, doch die Enge in der Stube ließ vermuten, dass die Bewohner einst in größeren Verhältnissen gelebt hatten.
Der Tisch war viel zu klein für das Sofa und hätte vom Stil her eher in eine Küche gepasst. In einem Sessel, der zum Fernseher hin ausgerichtet war, saß ein Mann mit einer Zeitung auf dem Schoß und musterte die Besucherin misstrauisch.
Das Gemurmel, das Charlotte über die Gegensprechanlage gehört hatte, war vermutlich eine Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten darüber gewesen, ob sie sie hereinbitten sollten oder nicht. Die Frau hatte zwar gewonnen, doch ihr Mann würde sich, wie es aussah, mit keinem Wort an der Unterhaltung beteiligen.
Charlotte setzte sich auf das Sofa und ließ den Blick noch einmal durch den Raum schweifen. In ihrem Kopf entstand das Bild von ordentlichen, konservativen Menschen, die sich in der Kleinbürgerlichkeit ihres Lebens wohlfühlten. Das Kruzifix an der Wand ließ außerdem vermuten, dass sie gläubige Christen waren, vermutlich Katholiken.
Sie hatte seit ihrem Eintreten zwar noch kein Wort mit den beiden gewechselt, doch in ihrem Kopf entwickelte sich bereits eine Theorie über die Gründe, die ihre Mutter nach der Vergewaltigung aus Herzheim und von ihren Eltern fortgetrieben hatten. Sie schob diese Gedanken jedoch beiseite. Sie wollte unvoreingenommen bleiben.
Ursula Funke hatte einen Stuhl geholt, der in dem kleinen Raum so ziemlich den letzten freien Platz einnahm, und setzte sich. Sie zupfte nervös an ihrer Hose herum und versuchte sich an einem Lächeln, das aufgesetzt und verzweifelt zugleich wirkte. »Sie sagten, Sie kämen wegen meiner Tochter.«
Charlotte nickte. »Es geht um das, was vor fünfundzwanzig Jahren geschehen ist. Ich untersuche … «
»Dann wissen Sie also nicht, ob sie noch lebt, wo sie ist und wie es ihr geht.« Die Enttäuschung ließ die Frau innerhalb weniger Sekunden um weitere zehn Jahre altern.
Und schon hatte Charlotte eine erste Antwort. Offenbar hatte es keinerlei Kontakt zwischen ihrer Mutter und den Funkes gegeben. Zumindest nicht in den letzten Jahren. Konnte sie die Tatsache, dass die Frau sie nicht nach ihrer Enkelin fragte, so deuten, dass ihre Großeltern nichts von ihrer Existenz wussten? Vielleicht.
Zieh keine voreiligen Schlüsse , ermahnte Charlotte sich im Stillen.
Plötzlich spürte sie einen Kloß im Hals, den sie erst einmal hinunterschlucken musste, bevor sie antworten konnte: »Nein, leider nicht.« Noch nicht , setzte sie in Gedanken hinzu. Vielleicht werde ich euch sagen, wer ich bin und was ich weiß, aber nicht heute.
Die alte Frau seufzte schwer. Scheinbar hatte sie gehofft, etwas über ihre Tochter zu erfahren.
»Ich schließe aus Ihrer Frage, dass Sie schon seit Längerem keinen Kontakt mehr zu Ihrer Tochter haben.«
Heinz Funke stieß ein verächtliches Schnauben aus, sagte jedoch nichts. Obwohl er sie nicht ansah, schien er aufmerksam zuzuhören.
»Seit Längerem?«, wiederholte Ursula. »Seitdem sie fortgegangen ist. Aber sie hatte wohl auch das Recht dazu … Wir haben sie verstoßen, und sie hat es uns nur gleichgetan.«
Charlotte spürte, wie sich ein Gefühl der Beklemmung in ihr ausbreitete. »Verstoßen?«, fragte sie und hoffte, dass man ihrer Stimme die Bestürzung nicht zu deutlich anhörte.
»Damals hielt ich es für richtig, aber heute … « Wieder ein Schnauben aus den Tiefen des Sessels. Es irritierte Ursula nur für einen kurzen Moment. »Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben. Doch die Behörden haben sich nicht einsichtig gezeigt.«
Charlotte verstand nicht, worauf sie anspielte. Sie überlegte, gezielt nachzufragen, doch sie spürte, dass Ursula Funke – sie als ihre Großmutter zu betrachten, gelang ihr nicht – lange keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, über die Vorkommnisse zu sprechen. Irgendetwas
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