Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
denn dann herrschte Kriegszustand und Geschrei. Nach ein paar Tagen oder Wochen vertrugen sie sich dann wieder, und die Streitpunkte verloren mit der Zeit an Bedeutung oder wurden begraben, ohne je wirklich geklärt zu werden.
Dennis und Gisèle waren sicher keine vorbildlichen WG -Partner, aber sie ignorierten Charlottes Stimmungsschwankungen, waren nicht nachtragend und verurteilten sie nicht. Das Paar bot ihr außerdem die einfache Möglichkeit, einige Vorlieben auszuleben, ohne sich in irgendwelche Beziehungskisten verstricken lassen zu müssen.
Der Preis dafür war nun mal, dass sie mit den Macken der beiden leben und akzeptieren musste, dass es ihnen egal war, ob Charlotte für ihre Prüfungen lernen konnte oder nicht. Immerhin waren sie unter der Woche nur selten zu Hause; dass Charlotte diese Zeit nicht unbedingt nutzte, war schließlich nicht ihre Schuld.
Trotzdem war heute einer dieser Tage, an denen Charlotte die Möglichkeit von Hartz IV oder Grundsicherung, einer Einzimmerwohnung in einem Sozialbau und Essen von der Tafel sehr verführerisch erschienen.
Anstatt jedoch zum Amt zu fahren und die Waffen zu strecken, hatte sie lediglich entschieden, die Vorlesung in Würzburg sausen zu lassen, sie heute Abend online nachzuholen und tagsüber zum Lernen in die Bibliothek der Privatuni von Lemanshain zu fahren. Im Hörsaal wäre sie aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin eingeschlafen.
Der Bus hielt an der Haltestelle vor dem Gelände der Privatuni. Charlotte war die einzige Passagierin, die ausstieg.
Die Praetorius-Universität war eine eigene kleine Stadt für sich. Sie lag im Herzen von Lemanshain, war jedoch von Zäunen und Mauern umgeben und kapselte sich vom Rest der Welt durch Zugangsbeschränkungen ab, die vom hauseigenen Wachdienst streng überwacht und durchgesetzt wurden.
Neben den Gebäuden der unterschiedlichen Fakultäten befanden sich dort Studenten- und Angestelltenwohnheime, eine Wäscherei, ein kleiner Einkaufsladen mit privat geführtem Postamt und sogar eine Bäckerei, die unter anderem die Mensa belieferte.
Charlotte passierte den Zugang, der aus einem Wachhäuschen, einem geschlossenen Zufahrtstor und zwei mit Kartenlesern ausgestatteten Personenzugängen bestand, und betrat das Universitätsgelände.
Die Bibliothek befand sich in dem mit Abstand ältesten Gebäude auf dem ganzen Campus. Das Haupthaus war Ende des achtzehnten Jahrhunderts im Barockstil errichtet worden und wirkte wie eine etwas kleinere Ausgabe von Schloss Belvedere in Wien, an das man zwei Flügel im gleichen Stil angebaut hatte.
Das eindrucksvolle Gebäude galt als die ursprüngliche Heimat der elitären Privatuniversität von Lemanshain. Im Inneren herrschte im Sommer angenehme Kühle und im Winter wohlige Wärme. Die Bibliothek war in drei Haupthallen und unzählige kleinere Bereiche unterteilt, von denen viele Zugangsbeschränkungen unterlagen. Die drei großen Haupthallen waren für jedermann geöffnet und boten in einem Meer aus riesigen Regalen einen Fundus an Büchern, der die größten Sammlungen öffentlicher Universitäten in den Schatten stellte.
Abgesehen von dem überlegenen Angebot an Literatur für ihr Studium und ihre anderen Interessen, spendeten die altehrwürdigen Mauern und die hohen Regale Charlotte eine innere Ruhe, die sie sonst nirgendwo fand – erst recht nicht in ihrem Wohnwagen.
Zwischen den Regalen waren Tische, Stühle und Sessel derart angeordnet, dass selbst das hektische Tastengeklapper der Notebooks verschluckt wurde. Neben Stromanschlüssen für die tragbaren Computer war an jedem Platz auch ein drahtloses Hochgeschwindigkeitsnetzwerk eingerichtet, das nicht nur Zugang zum digitalen Archiv der Bibliothek und dem Uni-Netz erlaubte, sondern auch uneingeschränkten Zugriff aufs Internet.
Solange niemand bemerkte, dass ihr ehemaliger Professor aus irgendeiner Laune heraus »vergessen« hatte, ihre Zugangskarte einzuziehen, als man ihr das Stipendium gestrichen hatte, sah Charlotte keinen Grund, das Angebot der Bibliothek nicht auch weiterhin zu nutzen.
Sie suchte sich einen der abgelegenen Plätze, die nur selten besetzt waren. Im Gegensatz zu den meisten anderen Studenten liebte Charlotte gerade diese Abgeschiedenheit. Als sie noch auf dem Unigelände im Wohnheim gelebt hatte, war sie vor den ausschweifenden Partys ihrer deutlich jüngeren Mitstudenten nachts oft in das durchgehend geöffnete, aber vollkommen verlassene Bibliotheksgebäude geflohen.
Zwischen ihr und den
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