Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
anderen hatte es eine unsichtbare, allerdings bis tief ins Erdinnere reichende Kluft gegeben, die nicht nur durch Status oder finanzielle Mittel, sondern auch unterschiedliche Lebenserfahrung geprägt war.
Über die Art von Veranstaltungen, die diese unreifen Jungs und Mädels – kaum der mütterlichen Fürsorge und väterlichen Überwachung entflohen – als wilde Partys bezeichneten, war Charlotte längst hinaus. Sie war wegen der Gleichgültigkeit ihrer Mutter schon früh auf sich allein gestellt gewesen und hatte tun und lassen können, was sie wollte.
In ihrer Jugend hatte das dazu geführt, dass sie viel zu früh und viel zu oft sturzbetrunken mit irgendwelchen Kerlen im Bett gelandet, ausgenutzt worden und mit Drogen in Kontakt gekommen war. Mit nicht einmal vierzehn Jahren wäre sie beinahe zur Hure eines Typen geworden, der sich seinen Lebensunterhalt mit krummen Geschäften verdiente. Diesem Schicksal dank seiner Verhaftung nur knapp entkommen, hatte sie sich einer Mädchengang angeschlossen, deren einziges Ziel es gewesen war, ihre Grenzen auszutesten – und die dabei mehr als einmal um Längen über die Ziellinie hinausgeschossen war.
Als Charlotte schließlich alt genug gewesen war, um ihr Leben einigermaßen eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen, war sie kaum noch dazu in der Lage gewesen. Die Therapien und ein Aufenthalt in der Psychiatrie hatten mehr oder weniger gut geholfen, wirkliche Freiheit konnten sie ihr allerdings nicht schenken. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr war sie viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Probleme in den Griff zu bekommen, als dass sie die Vorteile des Erwachsenseins so unbeschwert hätte genießen können wie ihre wohlhabenden Kommilitonen.
Mit dieser Ungerechtigkeit klarzukommen, hatte sie letztlich die Evolutionstheorie gelehrt. Wenn die Welt irgendwann im Laufe ihres Lebens untergehen sollte, wären ihre Chancen, zu der kleinen Anzahl von Überlebenden zu gehören, um ein Vielfaches höher als die der anderen. Sie hatte gelernt, sich in einer feindseligen Welt zu behaupten. Sie war nicht von anderen abhängig und konnte in Sekunden entscheiden, wer Freund oder Feind war. Und sie hatte keine Skrupel, mit allen ihr verfügbaren Mitteln zu kämpfen.
Sie lud ihren Rucksack auf dem Tisch ab, schlenderte zwischen den Regalen hindurch, die dem Fachbereich Biologie zugeordnet waren, und machte auch noch einen Abstecher in die Biochemie, bevor sie mit drei schweren Bänden und einer Liste weiterer Werke, die in die engere Auswahl zum Durcharbeiten kamen, zu ihrem Platz zurückkehrte. Während sie sich immer tiefer in den pflanzlichen Stoffwechsel einarbeitete, glitt der Tag dahin.
Charlotte verließ ihren Platz nur, um Bücher auszutauschen, einen Abstecher auf die Toilette zu machen oder sich an einem der beim Eingang postierten Automaten Nervennahrung zu besorgen.
Sie war derart tief in die Materie eingestiegen, dass sie ihre Umgebung kaum noch wahrnahm. Erst als jemand durch eine der Regalreihen auf sie zukam, direkt vor ihrem Tisch stehen blieb und sein Schatten auf sie fiel, schaute sie hoch.
Vor ihr stand ein großer, schlanker Kerl und lächelte sie an. Sie schenkte ihm gerade genug Beachtung, um zu entscheiden, dass sie ihn nicht kannte. Charlotte war nicht nach Konversation zumute, weshalb sie den Blick gleich wieder senkte.
Doch der Typ ging nicht. Sagte jedoch auch nichts. Er schien zu zögern.
Sie bemerkte, dass er nervös am Tragegurt seines Rucksacks herumfummelte. Schon war ihre Konzentration dahin. Mit einem genervten Seufzen sah sie erneut auf.
Noch bevor sie ein Wort herausbrachte, fragte er: »Hast du etwas dagegen, wenn ich mich einen Moment zu dir setze?«
Charlotte runzelte die Stirn. Sie wollte ihm gerade mit aller Deutlichkeit zu verstehen geben, dass er sich gefälligst einen anderen Platz suchen sollte, als ihr auffiel, dass er sich von den anderen Studenten unterschied.
Er war ordentlich gekleidet, trug wie die meisten anderen Jeans und T-Shirt. Es fehlten jedoch die üblichen Statussymbole wie die teure Uhr am Handgelenk oder der protzige Ring mit Gravur des angeblichen Familienwappens. Auch konnte sie kein einziges Designerlogo an seiner Kleidung oder seinem Rucksack entdecken.
Er wirkte auffallend normal, sah auf den zweiten Blick jedoch alles andere als durchschnittlich aus. Sein Körper war zwar nicht von irgendwelchem Training gestählt, aber Charlotte gefielen die dunklen Haare und das
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