Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
des Wochenendes und die Last des Wochenbeginns waren überall spürbar. Der Verkehr auf den Straßen schien anders zu fließen, langsamer, zäher, gleichzeitig kam es zu unzähligen gefährlichen Situationen und Beinahe-Unfällen, weil keiner so richtig bei der Sache war.
Auch Charlotte fühlte sich noch immer wie gerädert, als sie es um zehn Uhr morgens endlich schaffte, sich in Richtung Bushaltestelle aufzumachen und ins Stadtzentrum zu fahren. Sie war übermüdet und hatte das Gefühl, ihr Kopf würde ihr jeden Moment von den Schultern fallen.
Das Wochenende war höllisch gewesen.
Am Samstag hatte sie wie üblich Nachhilfeunterricht gegeben. Allerdings privat, nicht in einem Institut. Die beiden ortsansässigen Schülerhilfen hatten sie wegen ihrer Vorstrafe abgelehnt, weshalb sie Privatunterricht geben musste.
Und das bedeutete, dass sie samstags sechs verschiedene Haushalte besuchte, um dem Nachwuchs den Satz des Pythagoras oder die korrekte Verwendung des Present Perfect zu erklären. Wie die Termine nun einmal lagen, durchkreuzte sie dafür zweimal das gesamte Stadtgebiet.
Die Bezahlung hätte durchaus schlechter ausfallen können, ihr Verdienst reichte aber bei Weitem nicht aus, um neben ihren Lebenshaltungskosten auch noch die Studiengebühren zu bezahlen.
Ihr war weder BAföG noch ein Studentenkredit bewilligt worden. Offenbar traute man ihr nicht zu, ein Studium zum Abschluss zu bringen und irgendwann einmal genug zu verdienen, um die Schulden zurückzubezahlen. Außerdem sah man wohl auch die Gefahr, dass sie die noch ausstehenden Schmerzensgeldzahlungen mit den öffentlichen Geldern begleichen könnte – obwohl es dafür keine rechtliche Grundlage gab und die Forderungen außerdem bis auf Weiteres gestundet waren.
Selbst ein Schreiben ihrer Bewährungshelferin hatte nichts genutzt, das zwar lieblos und standardisiert aufgesetzt worden war, aber immerhin eine positive Entwicklung festgestellt und weitere Fortschritte prognostiziert hatte. Wenn sie studieren wollte, um nicht den Rest ihres Lebens in einem Wohnwagen festzusitzen, war sie auf sich allein gestellt.
Deshalb schob sie jeden zweiten Sonntag Zehn-Stunden-Schichten in der Möbelmanufaktur, einem der größten Arbeitgeber in Lemanshain. Je nach Auftragslage und Bedarf verrichtete sie die unterschiedlichsten Hilfsarbeiten. Manchmal blieb sie länger, um beim Putzdienst einzuspringen und sich so noch den einen oder anderen Euro zusätzlich zu verdienen. Wie auch an diesem Wochenende.
Irgendwie kam sie jeden Monat aufs Neue über die Runden. Sie schaffte es, zur Seite zu legen, was ihr die Uni jedes Semester an Gebühren abknöpfte, und kratzte zusammen, was sie für die Fachliteratur benötigte, die in der Würzburger Unibibliothek nur in völlig überholten und zerfledderten Ausgaben zu finden war. Wenn überhaupt.
Trotzdem gab es Tage, an denen sie daran dachte, alles hinzuschmeißen und sich beim Sozialamt zu melden. Heute war einer dieser Tage. Sie hatte Kopfschmerzen von den Dämpfen, die sie in der Manufaktur eingeatmet hatte. Außerdem war sie am Wochenende wegen ihrer Jobs mal wieder nicht dazu gekommen, für die Uni zu lernen, obwohl sie in der nächsten Woche einen wichtigen Klausurtermin hatte. Und dann hatten auch noch ihre Mitbewohner von Samstag auf Sonntag mit einigen Nachbarn aus der Siedlung die ganze Nacht durchgefeiert. Natürlich bei ihnen zu Hause.
Dennis und Gisèle nahmen an den Wochenenden nur selten Rücksicht auf Charlottes Bedürfnisse, aber sie führten auch ein gänzlich anderes Leben. Beide hatten die Schule abgebrochen. Gisèle verdiente sich ihr Geld überwiegend mit Betteln, während Dennis in irgendwelche obskuren Geschäfte verstrickt war, über die Charlotte lieber gar nicht so genau Bescheid wissen wollte.
Dass sie mit den beiden zusammenwohnte, beruhte auf einer ihrer berühmten unbedachten Bauchentscheidungen. Sie hatte in »Garten Eden« nach einer Bleibe gesucht und sich zum selben Zeitpunkt wie Dennis und Gisèle die Behausung Haselbusch Nummer neun angesehen. Sie waren ins Gespräch gekommen und hatten festgestellt, dass weder sie noch das Paar alleine für die Kosten aufkommen konnten. Sie waren sich einigermaßen sympathisch, die Idee zum Zusammenzug war innerhalb weniger Minuten geboren und ebenso schnell besiegelt worden.
Dass sie sich Hals über Kopf in dieses Abenteuer gestürzt hatte, bereute Charlotte des Öfteren. Zumindest, wenn es zwischen ihr und dem Paar mal wieder schlecht lief,
Weitere Kostenlose Bücher