Todeszeit
fünf Hundertdollarscheine. Mitch zählte das Geld, ohne es aus dem Fach zu nehmen.
Nichts in dem Portemonnaie ließ auf den Beruf, die persönlichen Interessen und das Umfeld, in dem der Mann sich bewegt hatte, schließen. Keine Visitenkarte, kein Büchereiausweis, keine Krankenversicherungskarte. Keine Fotos von Familienmitgliedern. Keine Notizzettel, kein Sozialversicherungsausweis, nicht einmal irgendwelche Quittungen.
Laut Führerschein wohnte Knox in Laguna Beach. Vielleicht konnte man etwas über ihn erfahren, indem man seine Wohnung durchsuchte.
Mitch brauchte Zeit, um zu überlegen, welche Risiken er mit einem Besuch bei dem Toten einging. Außerdem musste er noch jemand anderen aufsuchen, bevor er um sechs Uhr den angekündigten Anruf entgegennahm.
Er brachte die Geldbörse, das fremde Handy und den Schlüsselbund im Handschuhfach unter. Den Revolver und das Holster steckte er unter seinen Sitz.
Die Pistole blieb auf dem Beifahrersitz liegen, unter dem Jackett verborgen.
Durch ein Gewirr ruhiger Wohnstraßen, in denen er die Geschwindigkeitsbegrenzung und sogar mehrere Stoppschilder missachtete, fuhr Mitch zum Haus seiner Eltern in Orange, wo er kurz nach halb sechs ankam. Er parkte in der Einfahrt und schloss den Wagen ab.
Das hübsche Haus stand an einem gestuften Hang, der noch weiter nach oben führte. Auf der schmalen Straße, die Mitch heraufgekommen war, tauchte kein verdächtiges Fahrzeug auf.
Von Osten her kam eine leichte Brise. Mit unzähligen silbergrünen Zungen flüsterten die hohen Eukalyptusbäume sich etwas zu.
Mitch hob den Kopf, um zum Fenster des Lernzimmers hochzuschauen. Im Alter von acht Jahren hatte man ihn gezwungen, dort bei geschlossener Jalousie volle zwanzig Tage zuzubringen.
Die Abschirmung vor äußeren Reizen trug angeblich dazu bei, den Kopf frei zu machen und das Denken zu schärfen. So lautete jedenfalls die Theorie hinter der Einrichtung des dunklen, stillen, leeren Lernzimmers.
Mitchs Vater Daniel kam auf das Läuten hin zur Tür. Mit einundsechzig sah er noch erstaunlich jugendlich aus. Sein Haar war voll, wenn auch weiß geworden.
Vielleicht weil seine Gesichtszüge so gefällig und markant
waren, dass er perfekt zum Bühnenschauspieler getaugt hätte, wirkten die Zähne zu klein. Sie waren allesamt natürlichen Ursprungs. Er pflegte sie penibel und hatte sie mit dem Laser bleichen lassen, doch sosehr sie auch funkelten, sie sahen wie zwei Reihen weiße Körner in einem Maiskolben aus.
»Mitch!«, sagte er mit einer Überraschung, die ein klein wenig zu theatralisch war. »Katherine hat mir gar nicht gesagt, dass du angerufen hast.«
Katherine war Mitchs Mutter.
»Habe ich auch nicht getan«, sagte Mitch. »Ich habe gehofft, es ist schon in Ordnung, wenn ich einfach vorbeischaue. «
»Bekanntlich habe ich meistens irgendwelche blöden Verpflichtungen, also hättest du auch Pech haben können. Aber heute Abend habe ich frei.«
»Gut.«
»Allerdings wollte ich mich ein paar Stunden in meine Bücher vertiefen.«
»Ich kann sowieso nicht lange bleiben«, sagte Mitch beruhigend.
Die Kinder von Daniel und Katherine Rafferty, die inzwischen alle erwachsen waren, wussten, dass sie die Privatsphäre ihrer Eltern zu respektieren hatten. Statt einfach so hereinzuschneien, mussten sie für gewöhnlich ihre Besuche rechtzeitig ankündigen.
Mitchs Vater trat einen Schritt zurück. »Na, dann komm rein.«
In dem mit weißem Marmor gefliesten Windfang waren links und rechts große Spiegel mit Edelstahlrahmen angebracht. Zu beiden Seiten sah Mitch sein Ebenbild, das sich unendlich multiplizierte.
»Ist Kathy da?«, fragte er.
»Heute ist Damenabend«, sagte sein Vater. »Sie ist mit Donna Watson und einer Frau namens Robinson in irgendeine Show gegangen.«
»Ich hatte gehofft, sie anzutreffen.«
»Die kommen bestimmt erst sehr spät zurück.« Mitchs Vater schloss die Tür. »Das tun sie immer. Sie schnattern den ganzen langen Abend, und wenn sie endlich hier anrollen, schnattern sie immer noch. Kennst du eigentlich diese Robinson?«
»Nein. Von der höre ich zum ersten Mal.«
»Lästige Person. Mir ist völlig schleierhaft, wieso Katherine sich mit ihr abgibt. Sie ist Mathematikerin.«
»Ich wusste gar nicht, dass du Mathematikerinnen lästig findest.«
»Die schon.«
Mitchs Eltern hatten beide in Verhaltenspsychologie promoviert und waren Professoren an der Universität. Zu ihrem Bekanntenkreis gehörten hauptsächlich Leute aus jenem akademischen
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