Todeszeit
glauben, dass ein derart stocksteifes Elternpaar einen so lebhaften Sohn wie Anson hervorgebracht hatte.
Die Küchenuhr zeigte auf sechs Minuten vor halb acht. Ein durch einen Unfall entstandener Verkehrsstau hatte ihn aufgehalten.
Auf dem Tisch standen eine Flasche Chianti Classico und ein halb volles Glas. Anson ging an einen Hängeschrank, um ein zweites Glas herauszuholen.
Fast hätte Mitch den Wein abgelehnt, doch dann änderte er seine Meinung, weil ein Glas ihn bestimmt nicht gleich betäuben würde. Im Gegenteil, vielleicht lockerte es sogar ein wenig seine angespannten Nerven.
Während Anson eingoss, ahmte er ziemlich gekonnt die Stimme seines Vaters nach: »Doch, es freut mich, dich zu sehen, Mitch, obwohl dein Name nicht auf dem Terminplan für Verwandtschaftsbesuche steht. Allerdings wollte ich den Abend eigentlich damit verbringen, in meinem elektrifizierten Labyrinth ein paar Meerschweinchen zu foltern.«
Mitch nahm das Glas entgegen. »Von da komme ich übrigens gerade.«
»Das erklärt deine gedämpfte Stimmung und deine graue Gesichtsfarbe.« Anson hob sein Glas zu einem Trinkspruch. »La dolce vita!«
»Auf deinen neuen Job in China«, sagte Mitch.
»Hat man mich wieder benutzt, um dir ein paar feine Nadelstiche zu versetzen?«
»Das tut er immer. Aber er kann gar nicht mehr so fest zustechen, dass mir noch etwas wehtut. Hört sich nach einer tollen Chance an.«
»Die Sache mit China? Da hat er das, was ich ihm erzählt hab, offenbar mächtig übertrieben. Schließlich hat man nicht vor, die Kommunistische Partei aufzulösen und mich auf den Kaiserthron zu setzen.«
Ansons Consultingtätigkeit war so komplex, dass Mitch nie in der Lage gewesen war, zu begreifen, worum es ging. Promoviert hatte Anson in Linguistik, aber er kannte sich auch ausgezeichnet in Computersprachen und der Digitalisierungstheorie aus, was immer das sein mochte.
»Jedes Mal, wenn ich dort aus dem Haus komme«, sagte Mitch, »habe ich das Bedürfnis, in der Erde zu wühlen oder sonst irgendwas mit meinen Händen zu tun.«
»Sie schaffen es, dass man am liebsten zu etwas Realem flüchten will.«
»Genau so ist es. Übrigens, der Wein ist gut.«
»Nach der Suppe gibt es Lombo di Maiale con Castagne .«
»Was ich nicht aussprechen kann, das kann ich wahrscheinlich auch nicht verdauen.«
»Geschmorte Schweinelendchen mit Kastanien«, übersetzte Anson.
»Klingt lecker, aber ich hab keinen Hunger.«
»Es ist mehr als genug da. Das Rezept ist für sechs Personen. Da ich nicht weiß, wie ich es teilen soll, koche ich es auch immer so.«
Mitch warf einen Blick auf die Fenster. Gut – die Jalousien waren geschlossen.
Neben dem Telefonapparat lagen ein Stift und ein Notizblock.
Er griff danach. »Warst du in letzter Zeit mal segeln? «, fragte er beiläufig.
Anson träumte davon, eines Tages eine eigene Segeljacht zu besitzen. Sie sollte so groß sein, dass man sich auch bei einem langen Törn entlang der Küste oder einer Fahrt nach Hawaii nicht zu beengt fühlte, aber klein genug, um gemeinsam mit einer Gefährtin gesegelt werden zu können.
Das Wort Gefährtin verwendete er ausgesprochen gern, nicht nur fürs Segeln, sondern auch fürs Bett. Trotz seines bulligen Aussehens und seines gelegentlich ätzenden Humors war Anson ein romantischer Mensch.
Die Anziehung, die er auf Frauen ausübte, war mehr als magnetisch. Er wurde regelrecht umschwirrt.
Dennoch war er kein Casanova. Mit großem Charme ließ er die meisten seiner Verehrerinnen einfach abblitzen. Wenn er gelegentlich doch hoffte, eine könnte die ideale Frau für ihn sein, dann brach sie ihm unweigerlich das Herz. So melodramatisch hätte er es allerdings nicht ausgedrückt.
Das kleine, fünfeinhalb Meter lange Boot, das momentan an einer Boje im Hafen lag, konnte man beileibe nicht als Jacht bezeichnen. Angesichts seines mangelnden Glücks in der Liebe hatte er es jedoch womöglich schon lange in das Boot seiner Träume umgetauscht, bevor er eine Frau als Segelpartnerin fand.
Als Antwort auf Mitchs Frage sagt er: »Leider hatte ich bloß Zeit, mit den Enten im Hafen und auf den Kanälen herumzuschippern.«
Am Küchentisch sitzend, kritzelte Mitch etwas in Großbuchstaben auf den Notizblock. »Ich sollte auch ein Hobby haben«, sagte er dabei. »Du segelst, und unser Alter hat seine Dinosaurierscheiße.«
Er riss das oberste Blatt ab und schob es über den Tisch, sodass sein noch stehender Bruder es lesen konnte: WAHRSCHEINLICH IST DEIN HAUS
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