Todeszeit
Schwelle traten, blickte Mitch sich um und sah, wie Campbell die auf einem der Bücherregale stehenden Bände studierte. Er stand mit leicht ausgestellter Hüfte da wie ein Balletttänzer vor dem Auftritt.
Offenbar suchte er sich ein Buch als Bettlektüre aus. Vielleicht ging er auch nicht ins Bett. Spinnen schliefen schließlich nie, und die Geschichte auch nicht.
Über die Terrasse ging es zu Treppenstufen und zu einer zweiten Terrasse hinab. Die beiden Männer führten Mitch so gekonnt in ihrer Mitte, als würden sie das täglich tun.
Der Mond lag ertrunken im Swimmingpool, so bleich und wogend wie eine Erscheinung.
Auf Gartenwegen, neben denen unsichtbare Kröten quakten, über einen breiten Rasen und durch ein Gebüsch aus
hohen Sträuchern mit silbrig schimmernden Blättern kamen sie zu einem weitläufigen, aber eleganten Pavillon, der von einer romantisch beleuchteten Loggia umgeben war.
Die ganze Zeit über ließ die Wachsamkeit von Mitchs Begleitern nicht das kleinste bisschen nach.
In der Nacht blühender Jasmin umrankte die Säulen der Loggia und bildete am Dachvorsprung Girlanden.
Mitch atmete tief und langsam ein. Der schwere Duft war so süß, dass er fast einschläfernd wirkte.
Ein großer schwarzer Käfer mit langen Fühlern kroch langsam über den Boden der Loggia. Die beiden Männer führten Mitch um das Insekt herum.
Der Pavillon enthielt fantastisch restaurierte Automobile aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren. Mitch erkannte Modelle der Marken Buick, Lincoln, Packard, Cadillac, Pontiac, Ford, Chevrolet, Kaizer und Studebaker, sogar einen Tucker Torpedo. Wie Edelsteine waren sie unter exakt ausgerichteten Strahlern platziert.
Fahrzeuge für den täglichen Gebrauch wurden hier nicht geparkt. Hätte man Mitch zur normalen Garage gebracht, so hätte man wohl riskiert, auf Mitglieder des Personals zu stoßen.
Der Mann mit dem Narbengesicht zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete den Kofferraum eines mitternachtsblauen Chrysler Windsor aus den späten Vierzigerjahren. »Rein da!«, sagte er.
Aus demselben Grund, aus dem sie ihn nicht in der Bibliothek erschossen hatten, würden sie ihn hier ebenfalls nicht erschießen. Außerdem wollten sie bestimmt vermeiden, den Wagen zu beschädigen.
Der Kofferraum war geräumiger als der eines modernen Personenwagens. Mitch legte sich darin auf die Seite und zog die Beine an.
»Von innen kann man den Deckel nicht aufmachen«, sagte Narbengesicht. »Damals hat man sich noch nicht um Kindersicherheit geschert.«
»Wir nehmen kleine Landstraßen, wo niemand dich hören wird«, fügte der andere hinzu. »Wenn du also Radau machst, wird es dir nichts nützen.«
Mitch schwieg.
»Du würdest uns damit bloß auf die Palme bringen«, sagte Narbengesicht. »Dann werden wir am Ende härter mit dir umspringen, als wir es tun müssten.«
»Das will ich nicht.«
»Nein. Das willst du bestimmt nicht.«
»Ich wünschte, wir müssten das nicht tun«, sagte Mitch.
»Tja«, meinte der mit der glatten Haut, »so ist es eben.«
Vom Widerschein der Strahler beleuchtet, hingen die beiden Gesichter wie zwei düstere Monde über Mitch, eines mit dem Ausdruck kühler Gleichgültigkeit, das andere angespannt und von Verachtung durchzogen.
Sie schlugen den Deckel zu. Dann herrschte absolute Dunkelheit.
28
Holly liegt in der Dunkelheit und hofft inständig, Mitch möge am Leben bleiben. Um ihn hat sie mehr Angst als um sich selbst. Ihre Entführer tragen in ihrer Gegenwart grundsätzlich Skimasken. Wahrscheinlich, denkt sie, würden die ihre Gesichter nicht verbergen, wenn sie vorhätten, sie zu töten.
Als modisches Accessoire tragen sie die Dinger nicht. In einer Skimaske sieht niemand gut aus.
Wäre man grässlich entstellt, so wie das Phantom der Oper, dann würde man wohl schon gern eine Skimaske tragen. Es spricht jedoch gegen jede Vernunft, dass alle vier Männer derart entstellt sind.
Selbst wenn man also eigentlich nicht vorhat, Holly umzubringen, so könnte doch irgendetwas anders laufen als geplant. In einem kritischen Moment könnte sie versehentlich erschossen werden. Womöglich führt die Entwicklung der Umstände auch dazu, dass die Absichten der Entführer sich ändern.
Dennoch bleibt Holly die geborene Optimistin, die sie ist. Schon seit der Kindheit glaubt sie, dass jedes Leben einen Sinn hat, weshalb auch ihres nicht vorübergehen wird, bis sie ihren ureigenen Sinn gefunden hat. Deshalb grübelt sie jetzt nicht darüber nach, was
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