Todeszeit
vorbeikam, warf er nur noch einen kurzen Blick, ohne sie genauer zu inspizieren.
Die Tür, zu der er schließlich kam, sah aus wie alle anderen, doch als er sie aufgezogen hatte, sah er eine weitere. Er kannte sie nur zu gut. Sie war stark gepolstert und mit schwarzem Stoff bezogen.
Am ganzen Körper zitternd, zögerte er. Er hätte nie erwartet, hierher zurückzukehren und noch einmal über diese Schwelle zu treten.
Die zweite Tür konnte nur vom Flur aus geöffnet werden, von innen hingegen nicht. Er drehte den Knauf, der
den Riegel öffnete. Als er die Tür aufdrückte, lösten sich die eng aneinandergeschmiegten Elemente der Gummidichtung, die in den Rahmen eingebaut war.
Innen gab es keine Lampen, nicht einmal eine Glühbirne an der Decke. Er knipste die Taschenlampe an.
Da Daniel Boden, Wände und Decke eigenhändig mit einer gut einen halben Meter dicken Schicht aus verschiedenen schallschluckenden Materialien gedämmt hatte, war der Raum nur noch eine fensterlose, knapp drei mal drei Meter große Kammer. Vom Boden bis zur Decke blieben kaum zwei Meter Abstand.
Das schwarze Material, mit dem man jede Oberfläche gepolstert hatte, war so fein gewoben und ohne jeden Glanz, dass es den Strahl der Taschenlampe aufsog.
Sensorische Deprivation, die Abschirmung vor äußeren Reizen.
Mitchs Eltern hatten behauptet, so etwas sei keine Bestrafung, sondern ein Mittel, um Disziplin zu entwickeln, eine Methode, um den Geist nach innen zu lenken und sich selbst zu entdecken – kurz: eine Technik, keine Folter. Tatsächlich waren zahlreiche Studien veröffentlicht worden, in denen von den wundersamen Wirkungen dieses Verfahrens berichtet wurde.
Seite an Seite lagen Daniel und Kathy da, sie im Pyjama, er in Unterwäsche. Beide waren an Händen und Knöcheln mit Krawatten gefesselt. Die Knoten waren grausam eng, sodass der Stoff ins Fleisch schnürte.
Geknebelt hatte Anson die beiden nicht. Vielleicht hatte er sich mit ihnen unterhalten wollen.
Schreie konnten aus dem Lernzimmer nicht entweichen.
Mitch, der gleich jenseits der Schwelle stehen geblieben war, hatte das Gefühl, dass ihn die aggressive Stille ansog wie Treibsand, in dem er zu versinken drohte. Sein rascher,
unregelmäßiger Atem wurde zu einem flüsternden Keuchen gedämpft.
Den Sturm draußen hörte er nicht mehr, war jedoch sicher, dass er abgenommen hatte.
Kathy zu betrachten war schwerer, als Daniel so liegen zu sehen, wenn auch nicht so schwer, wie Mitch erwartet hatte. Hätte er die Tat verhindern können, so hätte er die beiden sicherlich vor seinem Bruder geschützt. Aber nun, da es geschehen war … war es vorbei. Statt vor dem Anblick zurückzuschrecken, wurde ihm das Herz schwer, und er verspürte eher Niedergeschlagenheit als Verzweiflung.
Daniels Augen standen offen. Sein Gesicht war von Grauen verzerrt, doch es lag eindeutig auch ein wenig Verblüffung darin. Im allerletzten Augenblick musste er sich gefragt haben, wie so etwas möglich war – wie Anson, sein einziger Erfolg, ihm den Tod bringen konnte.
Pädagogische Systeme, wie man Kinder erziehen sollte, gab es zuhauf, aber normalerweise brachten sie niemandem den Tod, zumindest nicht den Männern und Frauen, die sich damit beschäftigten, die entsprechenden Theorien zu entwickeln und zu vervollkommnen.
Nun hatte Anson seinen Eltern also einen Elektroschock verpasst, sie gefesselt und vielleicht auch noch ein Gespräch mit ihnen geführt. Anschließend hatte er sie erstochen. Die Wunden betrachtete Mitch lieber nicht so genau.
Bei den Waffen handelte es sich um eine Gartenschere und eine Handschaufel.
Mitch kannte diese Gegenstände. Sie stammten von dem Werkzeugregal in seiner Garage.
38
Mitch schloss die Leichen im Lernzimmer ein und hockte sich auf die oberste Treppenstufe, um nachzudenken. Angst, Schock und eine Dose Cola reichten nicht aus, um sein Denkvermögen wieder so in Schwung zu bringen, wie es vier Stunden Schlaf getan hätten.
Wütend warf der Wind sich gegen das Haus. Die Wände zitterten, hielten der Belagerung jedoch stand.
Mitch hätte wohl geweint, wenn er gewagt hätte, sich Tränen zu erlauben, aber er hätte nicht gewusst, um wen er da weinte.
Daniel oder Kathy hatte er nie weinen sehen. Statt sich wohlfeilen Emotionen hinzugeben, hatten die beiden daran geglaubt, man müsse jederzeit Vernunft und ein Verfahren anwenden, das sie als »wechselseitige analytische Unterstützung« bezeichneten.
Niemand, der die Wahrheit über diese Familie kannte,
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