Todeszeit
mehr aushalten zu können, doch du hältst es aus; du hältst eine weitere Minute aus, die nächste und die übernächste, eine Stunde, einen Tag; du hältst es aus, und dann geht die Tür auf, die Verbannung endet und es wird Licht; irgendwann wird immer Licht.
Holly hatte kein Wort darüber gesagt, dass ihre Periode ausgeblieben war. Klar, schließlich waren dadurch schon zweimal falsche Hoffnungen geweckt worden. Diesmal hatte sie offenbar sicher sein wollen, bevor sie ihm etwas sagte.
Bisher hatte Mitch nicht an ein Schicksal geglaubt; nun tat er es. Wenn er das aber endlich tat, so musste er an ein gutes, leuchtendes Schicksal glauben. Er war nicht bereit zu warten, was ihm aufgetischt wurde, verdammt noch mal.
Direkt bei den Hörnern würde er dieses Schicksal packen und mit aller Macht herumreißen.
Die Pistole noch immer in der Hand, eilte er ins Schlafzimmer. Das Anknipsen des Schalters neben der Tür ließ eine der beiden Nachttischlampen aufflammen.
Zielstrebig ging Mitch zum Kleiderschrank. Die Tür stand offen.
Seine Sachen waren in Unordnung. Zwei Jeans waren von ihren Bügeln gerutscht und lagen auf dem Boden.
Obwohl er sich nicht daran erinnerte, den Schrank in diesem Zustand hinterlassen zu haben, schnappte er sich einfach eine der Jeans vom Boden und zog sie an.
Während er anschließend in ein dunkelblaues, langärmeliges Baumwollhemd schlüpfte, drehte er sich um und sah erst jetzt die auf dem Bett verstreuten Kleidungsstücke: zwei helle Hosen, ein gelbes Hemd, weiße Sportsocken, weiße Unterhosen und ein ebenfalls weißes T-Shirt.
Es waren seine Sachen. Er erkannte sie nur zu gut.
Sie waren mit dunklem Blut befleckt.
Inzwischen wusste er, wie eine falsch gelegte Spur aussah.
Da wollte man ihm eine neue Gräueltat anhängen.
Er nahm die Pistole aus dem Schrankfach, in das er sie beim Anziehen gelegt hatte.
Die Tür zum Badezimmer stand offen. Dort brannte kein Licht.
Wie eine Wünschelrute zog die Pistole ihn zu diesem dunklen Ort. Er trat über die Schwelle, knipste das Licht an und starrte mit angehaltenem Atem in die plötzliche Helligkeit.
Er hatte erwartet, irgendetwas Scheußliches in der Dusche vorzufinden oder ein abgetrenntes Körperteil im Waschbecken. Da war jedoch absolut nichts.
Sein Gesicht im Spiegel war vor Schrecken zu einer fast unkenntlichen Grimasse verkrampft, doch seine Augen waren weiter geöffnet denn je, und nun gab es nichts mehr, wogegen sie blind gewesen wären.
Als er wieder ins Schlafzimmer trat, bemerkte er, dass auf dem zweiten Nachttisch, auf dem kein Licht brannte, etwas nicht stimmte. Er knipste die Lampe an.
Daneben standen zwei kleine Bronzeständer mit farbigen, polierten Kugeln Dinosaurierkot.
Obwohl die Oberfläche des Steins undurchsichtig war, kam ihm eine Szene aus einem alten Film in den Sinn, in der eine undurchsichtige Wahrsagerin vor ihrer Kristallkugel hockte und ein schlimmes Schicksal prophezeite.
»Anson«, flüsterte Mitch, und dann kam ihm ein Wort über die Lippen, das ihm sonst nicht vertraut war. »Mein Gott. O mein Gott.«
37
Wenn in dieser Gegend ein scharfer Wind von den Bergen im Osten kam, dann meist nur bei Aufgang oder Untergang der Sonne. Unerwartet fuhr nun, viele Stunden nach Anbruch der Nacht und vor der Morgendämmerung, plötzlich ein starker Frühlingswind über das Tiefland, als hätte er gewaltsam ein großes Tor aufgestoßen.
Inmitten der pfeifenden Böen ging Mitch den Fahrweg entlang auf den Chrysler zu. Obwohl er sich beeilte, zögerte er innerlich. Er fühlte sich wie ein Mann, der die kurze Reise von der Todeszelle zur Hinrichtungsstätte macht.
Er hatte keine Zeit, die Fenster herunterzukurbeln. Im Fahren öffnete er nur das direkt neben sich.
Eine schroffe Bö fuhr ihm ins Gesicht und zerzauste ihm das Haar, warm und aufdringlich.
Wer wahnsinnig war, dem fehlte bekanntlich jede Selbstkontrolle. Er glaubte sich von Verschwörungen umzingelt und drückte seinen Zustand in Form von irrationalem Zorn und grotesken Ängsten aus. Wirklich wahnsinnige Menschen wussten nicht, dass sie krank waren, und sahen daher auch keine Notwendigkeit, eine Maske zu tragen.
Mitch wollte glauben, dass sein Bruder geisteskrank war, denn wenn Anson mit kaltblütiger Berechnung handelte, dann war er ein Ungeheuer. Wenn man ein solches Ungeheuer bewundert und geliebt hatte, musste man sich für die eigene Leichtgläubigkeit schämen, ja schlimmer noch: Durch die Bereitschaft, sich täuschen zu lassen, hatte man
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