Todeszeit
hätte Mitch einen Vorwurf gemacht, wenn er um sich selbst geweint hätte. Das jedoch hatte er schon seit seinem sechsten Lebensjahr nicht mehr getan, denn er hatte seinen Eltern nicht die Genugtuung gegönnt, seine Tränen zu sehen.
Um seinen Bruder würde er nicht weinen.
Das klägliche Mitleid, das er zu Beginn für Anson verspürt hatte, war völlig verschwunden. In Luft aufgelöst hatte es sich nicht erst gerade eben im Lernzimmer, sondern schon im Kofferraum des alten Chrysler.
Als er von Rancho Santa Fé aus nach Norden gefahren war, hatte er die vier Fenster nicht nur heruntergekurbelt, um den Wagen zu lüften, sondern auch, um sich vom Wind alle Illusionen und Selbsttäuschungen austreiben zu lassen. Der Bruder, den er zu kennen und lieben meinte, hatte in Wahrheit nie existiert. Mitch hatte keine reale Person geliebt, sondern die Schauspielerei eines Psychopathen, ein Phantom.
Nun hatte Anson die Gelegenheit ergriffen, sich an Daniel und Kathy zu rächen und den Mord seinem Bruder in die Schuhe zu schieben, den er ans Messer geliefert hatte.
Wenn für Holly kein Lösegeld gezahlt wurde, dann brachten die Entführer sie um und warfen ihren Körper vielleicht einfach ins Meer. Auch für diesen Mord würde man Mitch verantwortlich machen – ebenso wie für den tödlichen Schuss auf Jason Osteen.
Für die Nachrichtensender war so eine Mordserie sicherlich ein gefundenes Fressen. Wäre Mitch verschollen gewesen, während er in Wirklichkeit tot in der Wüste lag, so hätte man wochenlang ausgiebig über die Suche nach ihm berichten können.
Mit der Zeit wäre er womöglich zu einer Legende geworden wie D. B. Cooper, der Flugzeugentführer, der 1971 mit den von ihm erpressten zweihunderttausend Dollar Bargeld per Fallschirm aus einem Jet gesprungen war, ohne dass man je wieder von ihm gehört hätte.
Mitch überlegte, ob er ins Lernzimmer zurückkehren sollte, um die Gartenschere und die Schaufel mitzunehmen. Bei der Vorstellung, die provisorischen Waffen aus den Leichen zu ziehen, wurde ihm jedoch übel. In den vergangenen Stunden hatte er zwar Schlimmeres getan, aber dazu war er einfach nicht in der Lage.
Außerdem hatte der schlaue Anson zusätzlich zu dem
Gartenwerkzeug wahrscheinlich weitere Spuren gelegt, die auf Mitch verwiesen. Sie zu finden hätte Zeit erfordert, und die hatte Mitch nicht.
Seine Armbanduhr zeigte sechs Minuten nach drei Uhr morgens an. In weniger als neun Stunden riefen die Entführer in Ansons Haus an, um weitere Anweisungen zu geben.
Noch blieben fünfundvierzig von ursprünglich sechzig Stunden bis zum Ende der gesetzten Frist, am Mittwoch um Mitternacht.
Bis dahin würde diese Geschichte jedoch bereits lange beendet sein. Neue Entwicklungen erforderten neue Regeln, und die wollte Mitch selber aufstellen.
Mit der Imitation eines Wolfsgeheuls rief der Wind ihn in die Nacht.
Nachdem Mitch oben alle Lichter ausgeschaltet hatte, ging er in die Küche hinunter. Früher hatte Daniel im Kühlschrank immer eine Schachtel Schokoriegel verwahrt. Er mochte seine Süßigkeiten gerne kalt.
Tatsächlich wartete die Schachtel im untersten Fach. Nur ein Riegel fehlte. Die Schokolade war immer ausschließlich für Daniel reserviert gewesen; niemand sonst hatte sich davon bedienen dürfen.
Mitch nahm die ganze Schachtel mit. Er war zu erschöpft und zu nervös, um hungrig zu sein, doch er hoffte, den Zucker als Schlafersatz nutzen zu können.
Als auch im Erdgeschoss alle Lichter aus waren, verließ er das Haus durch die Vordertür.
Herabgefallene Palmwedel fegten über die Straße, gefolgt von einer rollenden Mülltonne, die ihren Inhalt preisgab. Verdorrte Blumenrabatten flogen in Fetzen, Sträucher schüttelten sich, als wollten sie sich selbst entwurzeln, eine zerfledderte Markise, die in diesem Licht schwarz aussah,
flatterte wie eine unheilvolle Fahne, und die Eukalyptusbäume verliehen dem Wind unzählige zischende Stimmen. Man konnte sich vorstellen, dass es den Mond vom Himmel wehte und dass die Sterne ausgeblasen wurden wie Kerzen.
In dem vom Sturm geschüttelten Chrysler machte Mitch sich auf die Suche nach Anson.
39
Holly arbeitet an dem Nagel, obwohl sie keinerlei Fortschritte macht, denn wenn sie nicht am Nagel arbeitet, hat sie nichts zu tun, und wenn sie nichts zu tun hat, wird sie verrückt.
Aus irgendeinem Grund fällt ihr die Wahnsinnige ein, die Glenn Close in Eine verhängnisvolle Affäre gespielt hat. Selbst wenn sie verrückt werden sollte, wäre sie wohl
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