Todeszeit
keine Kerze, sondern eine kleine Taschenlampe, lindert die Dunkelheit, in der Holly eingekerkert ist. Das Licht richtet sich auf die schwarze Skimaske, die aufgesprungenen Lippen und die beryllblauen Augen eines der Entführer, der vor ihr kniet. Es ist der, vor dem sie Angst hat.
»Ich hab dir was Süßes mitgebracht«, sagt er.
Er streckt ihr einen Erdnussriegel hin.
Seine Finger sind lang und weiß. Die Nägel sind abgekaut.
Holly ekelt es an, irgendetwas anzufassen, das er berührt hat. Ohne sich das anmerken zu lassen, nimmt sie den Riegel entgegen.
»Die anderen schlafen. Ich habe Wache.« Er stellt eine Dose Cola vor sie auf den Boden. Die Dose ist so kalt, dass sie mit Kondenswasser beschlagen ist. »Magst du so was?«
»Ja. Danke.«
»Kennst du Chamisal?«, fragt er. »Das ist in New Mexico.«
Er hat eine weiche, musikalische Stimme. Fast könnte es eine Frauenstimme sein, aber doch nicht ganz.
»Chamisal?«, wiederholt sie. »Nein. Da bin ich nie gewesen. «
»Ich habe dort Erfahrungen gemacht«, sagt er. »Mein Leben hat sich verändert.«
Der Wind dröhnt, auf dem Dach klappert etwas, und sie benutzt das Geräusch, um zur Decke zu blicken. Vielleicht sieht sie dort irgendein Detail, das sie später der Polizei berichten kann.
Als man sie hereingeführt hat, waren ihre Augen verbunden. Kurz vorher sind sie eine enge Treppe hochgestiegen. Vielleicht befindet sie sich auf einem Dachboden.
Die Linse der kleinen Taschenlampe ist zur Hälfte abgeklebt, weshalb es so dunkel ist, dass die Decke unsichtbar bleibt. Das Licht erreicht nur die nächste, mit nackten Holzbrettern verschalte Wand, alles sonst versinkt im Dunkel.
Vorsichtig sind diese Leute, das muss man ihnen lassen.
»Warst du schon mal in Rio Lucio?«, fragt der Mann. »Das ist auch in New Mexico.«
»Nein. Da war ich auch noch nicht.«
»In Rio Lucio steht ein kleines, mit Gips verputztes Haus. Es ist blau getüncht, mit einer gelben Kante rund ums Dach. Wieso isst du nicht?«
»Ich spare mir den Riegel für später auf.«
»Wer von uns weiß schon, wie viel Zeit ihm noch bleibt? Iss jetzt. Ich sehe dir gern beim Essen zu.«
Widerstrebend schält sie den Erdnussriegel aus seiner Hülle.
»In diesem blau-gelben Haus in Rio Lucio lebt eine fromme Frau namens Ermina Lavato. Sie ist zweiundsiebzig.«
Offenbar meint der Mann, solche Aussagen würden eine Unterhaltung darstellen. Seine Pausen weisen darauf hin, dass Holly daran teilnehmen darf.
Nachdem sie den ersten Bissen hinuntergeschluckt hat, fragt sie: »Sind Sie verwandt mit ihr?«
»Nein, sie stammt aus einer spanischen Familie. In ihrer Küche, die eingerichtet ist wie vor achtzig Jahren, macht sie fantastische Fajitas. Mit Hühnerfleisch.«
»Kochen ist nicht so mein Ding«, sagt Holly dümmlich.
Sein Blick hat sich auf ihren Mund geheftet. Während sie das nächste Stück Erdnussriegel abbeißt, hat sie das Gefühl, eine obszöne Handlung zu vollziehen.
»Ermina ist sehr arm. Das Haus ist klein, aber wunderschön. Jedes Zimmer ist in einer anderen beruhigenden Farbe getüncht.«
Weil er ihren Mund anstarrt, erwidert sie den forschenden Blick, zumindest soweit seine Maske das zulässt. Sein Gebiss ist gelb. Die Schneidezähne sind scharf, die Eckzähne ungewöhnlich spitz.
»An der Wand ihres Schlafzimmers hängen zweiundvierzig Bilder der Muttergottes.«
Seine Lippen sehen aus, als wären sie chronisch aufgeplatzt. Wenn er nicht spricht, dann kaut er manchmal an den losen Hautfetzen.
»Im Wohnzimmer hängen neununddreißig Bilder mit dem Herz Jesu. Es ist von Dornen durchbohrt.«
Die Risse in seinen Lippen glänzen, als würde gleich Flüssigkeit aus ihnen austreten.
»Im Garten von Ermina Lavato habe ich einen Schatz vergraben.«
»Als Geschenk für sie?«, fragt Holly.
»Nein. Was ich vergraben habe, würde sie nicht gutheißen. Trink deine Cola.«
Aus einer Dose, die er angefasst hat, will sie eigentlich nicht trinken. Sie öffnet trotzdem den Verschluss und nimmt einen Schluck.
»Kennst du Penasco, New Mexico?«
»Also, in New Mexico bin ich überhaupt nicht viel herumgekommen. «
Er schweigt einen Augenblick. In dieses Schweigen hinein heult der Wind, und sein Blick senkt sich zu ihrer Kehle, als sie schluckt. »In Penasco hat sich mein Leben verändert«, sagte er schließlich.
»Ich dachte, das war in Chamisal?«
»In New Mexico hat sich mein Leben oft verändert. Dieser Staat ist voller Veränderungen und großer Geheimnisse.«
Holly ist eine
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