Todeszeit
nicht imstande, ein zahmes Kaninchen in den Suppentopf zu stecken und zu kochen, außer natürlich, ihre Familie hungert und hat nichts anderes zu essen, oder das Kaninchen ist von einem Dämon besessen. In solchen Fällen ist alles möglich, das ist klar.
Mit einem Mal beginnt der Nagel zu wackeln, und das ist aufregend. Holly ist sogar so aufgeregt, dass sie fast die Bettpfanne braucht, die ihr die Entführer hingestellt haben.
Im Verlauf der nächsten halben Stunde lässt ihre Aufregung allerdings ziemlich nach, weil sie nur in der Lage ist, den Nagel einen guten halben Zentimeter weit aus der Diele zu ziehen. Dann bleibt er hängen und rührt sich nicht mehr.
Dennoch ist ein halber Zentimeter besser als gar nichts. Schließlich könnte der Nagel, wie sie berechnet hat, acht Zentimeter lang sein. Alles in allem – die Pausen abgezogen, die sie gemacht hat, um die von den Entführern gelieferte Pizza zu verzehren und um ihre Finger auszuruhen – hat sie etwa sieben Stunden an dem Nagel gearbeitet. Wenn sie ihn nur ein wenig schneller herausziehen kann, das
heißt etwa drei Zentimeter pro Tag, dann steckt das Ding bis Mittwoch Mitternacht nur noch ein kleines Stück weit im Holz.
Falls Mitch bis dahin tatsächlich das Lösegeld aufgetrieben hat, werden alle Beteiligten einfach noch einen Tag warten müssen, bis sie den verfluchten Nagel ganz herausgezogen hat.
Holly ist eben immer Optimistin gewesen. Man hat sie als sonnig, fröhlich, munter und überschwänglich bezeichnet. Verärgert über ihre hartnäckig positive Einstellung, hat ein Miesepeter einmal gemeint, sie sei wohl aus einer Affäre von Micky Maus und Glöckchen, der Fee aus Peter Pan , hervorgegangen.
Wäre sie gemein, so hätte sie besagtem Miesepeter daraufhin die Wahrheit sagen können: Nach dem Tod ihrer Eltern – ihr Vater ist bei einem Verkehrsunfall gestorben und ihre Mutter bei Hollys Geburt – ist sie bei ihrer Großmutter aufgewachsen, einer überaus liebevollen und fröhlichen Person.
Stattdessen hat sie damals erwidert: Stimmt! Aber da Glöckchen kein besonders gebärfreudiges Becken hat, hat sich Daisy Duck als Leihmutter zur Verfügung gestellt.
Im Augenblick fällt es ihr jedoch ungewohnt schwer, in guter Stimmung zu bleiben. Entführt zu werden ist nicht besonders lustig.
Zwei ihrer Fingernägel sind schon abgebrochen, und ihre Fingerkuppen sind wund. Hätte sie die Finger während der Arbeit am Nagel nicht mit dem Saum ihrer Bluse geschützt, dann würden sie jetzt wahrscheinlich bluten.
Angesichts der Gesamtlage sind diese Wehwehchen allerdings höchst unbedeutend. Schließlich haben die Entführer gegenüber Mitch gedroht, Holly einzeln die Finger abzuschneiden. Wenn es tatsächlich so weit kommen sollte …
Holly macht eine Pause. Im Dunkeln lässt sie sich auf ihre Luftmatratze sinken.
Obwohl sie erschöpft ist, erwartet sie, nicht einzuschlafen. Dann träumt sie plötzlich davon, an einem lichtlosen Ort zu sein, bei dem es sich nicht um das Zimmer handelt, in dem die Entführer sie eingesperrt haben.
Im Traum ist sie auch nicht an einen Metallring im Boden gefesselt. Sie geht im Dunkeln umher, ein Bündel in den Armen.
Bald stellt sie fest, dass sie sich in überhaupt keinem Zimmer befindet, sondern in einer Reihe von Gängen. Einem System aus Tunnels. Einem Labyrinth.
Das Bündel wird allmählich immer schwerer. Ihre Arme schmerzen. Sie weiß nicht, was sie da trägt, aber wenn sie es niederlegt, wird etwas Schreckliches geschehen.
Ein schwaches Leuchten zieht sie an. Sie kommt in eine Kammer, die von einer einzelnen Kerze erhellt wird.
Dort ist Mitch. Sie freut sich so, ihn zu sehen. Auch ihr Vater und ihre Mutter, die sie nur von Fotos her kennt, sind da.
Das Bündel in ihren Armen ist ein schlafendes Baby. Ihr schlafendes Baby.
Lächelnd kommt ihre Mutter auf sie zu, um ihr das Baby abzunehmen. Sosehr Hollys Arme auch schmerzen, sie hält das kostbare Bündel fest.
Gib uns das Baby, Liebes, sagt Mitch. Es sollte bei uns sein. Du gehörst nicht hierher.
Ihre Eltern sind tot, Mitch ebenfalls, und wenn sie das Kind loslässt, dann wird es auch nicht mehr nur schlafen.
Sie weigert sich hartnäckig, das Kind herzugeben – und dann liegt es doch irgendwie in den Armen ihrer Mutter. Ihr Vater bläst die Kerze aus.
Als Holly aufwacht, hört sie eine Bestie heulen. Es ist nur
der Wind, doch der ist Bestie genug, wie er an die Wände hämmert und Staub von den Deckenbalken schüttelt.
Ein schwaches Licht,
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