Todeszeit
begleitet von dem leicht moschusartigen Duft von Moos.
Zuerst tröstete ihn das, weil es ihn an ein Leben erinnerte, das einfacher gewesen war. Es lag gerade einmal sechzehn Stunden zurück. Leider dauerte es nicht lange, bis die Mischung in der Luft ihn an den Geruch von Blut denken ließ.
In den Räumen über den Garagen ging das Licht aus.
Eine Tür schlug zu. Vielleicht hatte der Sturm ihr einen zusätzlichen Stoß versetzt. Trotz des Rauschens in der Luft waren schwere, eilige Schritte zu hören, die über die Außentreppe zum Hof herabkamen.
Zwischen den Farnwedeln sah Mitch eine bullige Gestalt über das Ziegelpflaster gehen.
Anson merkte nicht, wie sein Bruder von hinten auf ihn zukam. Erst als der Taser sein Nervensystem kurzschloss, stieß er einen erstickten Schrei aus.
Während Anson vorwärtstaumelte und dabei versuchte, auf den Beinen zu bleiben, hielt Mitch sich direkt hinter ihm. Aus dem Taser fuhr ein weiterer fünfzigtausend Volt starker Stoß.
Anson stürzte aufs Pflaster, wo er sich auf den Rücken drehte. Sein stämmiger Körper zuckte, die Arme flatterten
lose an den Seiten. Sein Kopf rollte hin und her, und die Geräusche, die er von sich gab, hörten sich an, als wäre er in Gefahr, seine Zunge zu verschlucken.
Mitch wollte zwar nicht, dass Anson seine Zunge verschluckte, aber er würde auch nichts unternehmen, um das zu verhindern.
41
Mit wilden Flügeln schlägt der Sturm an die Wände und rüttelt am Dach. Selbst die formlose Dunkelheit scheint zu vibrieren.
Weiß wie Tauben streicheln sich die haarlosen Hände im schwachen Schein der halb verhüllten Taschenlampe.
»In El Valle, New Mexico, ist ein Friedhof, auf dem das Gras nur selten gemäht wird«, sagt die sanfte Stimme. »Auf manchen Gräbern liegen Steine, auf anderen nicht.«
Holly hat den Erdnussriegel aufgegessen. Nun ist ihr fast übel. Ihr Mund schmeckt nach Blut. Sie spült ihn mit Cola aus.
»Einige der Gräber ohne Grabsteine sind von niedrigen Zäunen umgeben. Die Latten hat man aus den Brettern alter Obst- und Gemüsekisten geschnitzt.«
Offenbar führt dies alles irgendwohin, doch die Gedanken des Mannes folgen Pfaden, die wohl nur ein ebenso verqueres Hirn wie seines nachvollziehen kann.
»Die Angehörigen der Toten haben die Latten mit Pastellfarben angemalt – in Taubenblau, Lindgrün, dem Gelb verblasster Sonnenblumen.«
Trotz der beklemmenden Rätsel, die sich hinter der weichen Farbe seiner Augen verbergen, stoßen diese Holly momentan weniger ab als seine Hände.
»Wenige Stunden, nachdem ein neues Grab zugeschaufelt worden war, haben wir es im Licht der Mondsichel wieder freigelegt und den hölzernen Sarg eines Kindes geöffnet. «
»Das Gelb verblasster Sonnenblumen«, wiederholt Holly und versucht, mit dieser Farbe das Bild eines im Sarg liegenden Kindes zu verdrängen.
»Es war ein Mädchen, das mit acht Jahren an Krebs gestorben war. Man hatte es mit einer Christophorusmedaille in der linken Faust begraben. In der rechten war ein Porzellanfigürchen von Cinderella, weil sie den Film so geliebt hatte.«
Das Bild von den Sonnenblumen hält nicht lange vor, und Holly sieht zwei kleine Hände, die sich um den schützenden Heiligen schließen und um die Figur des armen Mädchens, das zur Prinzessin wurde.
»Da diese Dinge einige Stunden im Grab eines unschuldigen Kindes geruht hatten, war eine große Kraft auf sie übergegangen. Sie waren vom Tod gewaschen und vom Geist poliert.«
Je länger sie in die Augen des Mannes sieht, desto weniger vertraut werden diese.
»Wir haben ihr die Medaille und die Figur aus den Händen genommen und sie durch … andere Dinge ersetzt.«
Eine weiße Hand verschwindet in der Tasche der schwarzen Jacke. Als sie wieder auftaucht, hält sie an einer Silberkette die Christophorusmedaille.
»Da«, sagt er. »Nimm sie.«
Holly überkommt ein Schaudern, nicht weil die Medaille aus einem Grab stammt, sondern weil man sie aus der Hand eines toten Kindes genommen hat.
Hier geschieht mehr, als dieser Mann in Worte fasst. Zwischen den Zeilen verbirgt sich etwas, das Holly nicht begreift.
Sie spürt, dass es schreckliche Folgen hätte, die Medaille zurückzuweisen, egal aus welchem Grund. Deshalb streckt sie die rechte Hand aus, und er lässt die Medaille hineinfallen.
Die Kette legt sich in beliebigen Schlingen auf Hollys Handfläche.
»Kennst du Espanola in New Mexico?«
Sie faltet die Hand um die Medaille. »Auch das ist ein Ort, der mir bisher entgangen
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