Todeszorn: Thriller (German Edition)
weiblichen Lieutenant lassen konnte. Als Horn merkte, dass sein Kamerad ihn ertappt hatte, setzte er eine schuldbewusste Miene auf.
»S ie scheint nett zu sein, was?«, sagte Raines.
»J a, Sergeant. Das stimmt.«
Für Matt Horn ging es immer so aus– egal ob im Traum oder in der Erinnerung.
Er zwang sich, an etwas anderes zu denken. Strich sich mit der Hand über die wulstige Narbe der Schusswunde an seinem Schienbein und beobachtete, wie in der Kaffeemaschine der Kaffee in die Kanne zu tröpfeln begann.
Sein Apartment war spartanisch eingerichtet: ein einfacher Tisch mit zwei Stühlen in der Küche, Sofa und Fernseher im Wohnzimmer, ein Bett mit einem Nachttisch daneben im Schlafzimmer. Er betrachtete die Wohnung nicht als sein Zuhause. Es war ein Ort, an dem er lebte– mehr nicht. Die Einrichtung hatte er nach und nach gebraucht gekauft– hauptsächlich über Zeitungsannoncen und Aushänge in den Läden der Umgebung. Er konnte alles jederzeit zurücklassen und würde ihm keine Träne nachweinen.
Das Apartment war perfekt auf seine Bedürfnisse zugeschnitten: eine Ein-Zimmer-Wohnung mit Bad in einem viktorianischen Backstein-Gebäude. Für die anderen Hausbewohner war er der schweigsame, etwas bedrohlich wirkende Typ mit den Tätowierungen, der allein lebte und mit niemandem etwas zu tun haben wollte. Er grüßte zwar immer, wenn ihm jemand begegnete, und lächelte auch dabei, kannte aber nicht einen seiner Nachbarn beim Namen. Aber das war ihm nur recht. Niemand lud ihn zu einer Party ein oder sprach ihn an, um sich mit ihm über Fußball, die Arbeit oder sonst was zu unterhalten.
Er hätte nie von sich behauptet, irgendwo zu Hause zu sein. Das war er weder in seiner Wohnung noch in der Hütte in den Bergen außerhalb der Stadt. Dort am allerwenigsten.
Als das Telefon läutete, ging er zum Küchentresen, um das Gespräch anzunehmen.
»I ch bin’s«, sagte eine männliche Stimme.
»J a?«
»H ast du’s gehört?«
»N ein.«
»S tark hat gestern die Maschine bestiegen.«
Raines schwieg und kratzte sich mit den Fingernägeln seine Bartstoppeln.
»D ie Maschine, die abgeschmiert ist«, sagte die Stimme.
»B ist du dir ganz sicher? Hast du gesehen, wie er eingestiegen ist?«
»E r war auf jeden Fall an Bord, hat aber nicht den Namen Stark benutzt. Das Ticket war auf John Reece ausgestellt.«
Raines lauschte dem Zischen und Gluckern der Kaffeemaschine.
»D amit hat sich das dann wohl erledigt«, sagte er.
Er legte auf, trat ans Fenster und verstellte die Lamellen der Jalousie. Sonnenlicht drang durch die schmalen Schlitze.
Er fühlte sich wie betäubt. Aber eigentlich hatte er sich nie anders gefühlt, seit er aus dem Krieg zurückgekommen war.
2
Raines fuhr in die Innenstadt. Er warf einen Blick auf das Schild, das ihn in »L oDo«, in Lower Downtown, willkommen hieß. Er passierte umgebaute viktorianische Lagerhäuser, die jetzt Bars und Läden beherbergten, und parkte seinen Pick-up vor einem Speiselokal an der Ecke Seventeenth und Market Street.
Er betrat das Lokal und erklärte der Bedienung, er erwarte noch jemanden, würde sich aber gern schon einmal setzen. Die Frau schnappte sich zwei Speisekarten und führte ihn zu einem Tisch direkt neben der kahlen Ziegelwand. Das Lokal war ganz nett, wenn auch nichts Besonderes– anonym eben.
Und Anonymität gefiel ihm.
Als er einen pochenden Schmerz im Bein verspürte, rieb er durch den Stoff seiner Jeans hindurch über die Narbe.
Von seinem Platz aus konnte er das Treiben auf der Straße beobachten; das Sonnenlicht wurde von dem Schaufensterglas der Läden auf der gegenüberliegenden Seite reflektiert. Wieder musste er an die glühende Hitze an jenem Tag in Lashkar Gah denken, an die Ofenglut im Innenraum de s L androver, mit dem sie zu dem Mohnfeld gefahren waren.
Er und Horn warteten mit dem weiblichen Lieutenant und dem Corporal der Royal Military Police an der hinteren Tür des Landrover. Aus der Gruppe der übrigen britischen Soldaten lösten sich zwei Rekruten und schlossen die Hecktür auf, bevor sie nach vorn zum Führerhaus gingen.
Der Corporal wirkte kaum älter als Horn mit seinen dreiundzwanzig Jahren. Raines konnte es immer noch nicht begreifen, dass Horn sein Collegestudium der Chemie und der Physik aufgegeben hatte, um zur Armee und nach Afghanistan zu gehen. Genauso wenig, wie dass er sich seine zottelige Studentenfrisur zu einem militärisch korrekten Kurzhaarschnitt hatte zurechtscheren lassen. Raines selbst hatte hier
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