Todfeinde
aufgesammelt werden müsste. Zu seinem Leidwesen stand der Geländewagen seiner Schwiegermutter neben Marybeths Van in der Einfahrt.
Er stieg aus dem Mietauto und streckte sich. Von seinem Pick-up war er es gewohnt, wesentlich mehr Beinfreiheit zu haben. Maxine erkannte ihn erst, als er schon ausgestiegen war – sie hatte nach seinem Pick-up Ausschau gehalten – , und kam durch die Fliegentür nach draußen gesprungen.
»Dad!«, rief Lucy und schaute aus ihrem Fenster – er hatte wohl nie etwas Schöneres gehört. Marybeth öffnete lächelnd die Haustür, blond, wohlauf und wunderschön. Sie umarmten sich am Gartentor, und Lucy kam gerannt, um ihn zu begrüßen.
»Warum hast du nicht erst angerufen?«, fragte Marybeth.
»Mein Handy ist verbrannt.«
»Dein Gesicht hat ja ganz schön was abbekommen.« Sie strich mit den Handflächen über seine Wangen. »Du musst mir genau erzählen, was passiert ist.«
Joe blickte auf und sah Missy auf der Schwelle stehen. Ihr Lächeln erschien ihm ein wenig aufgesetzt.
»Später«, erwiderte er.
»Wir haben Steaks in der Kühltruhe«, sagte Marybeth. »Ich tau sie auf und dann koche ich dir ein tolles Abendessen.«
Joe lächelte.
Missy blieb zum Essen, worüber Joe alles andere als erfreut war. Sie erzählte ihm von Italien, dem Essen und der Stilsicherheit, die dort in Modefragen herrsche, und schwärmte vom Service in den Fünf-Sterne-Hotels. Joe wäre fast explodiert, da er Marybeth so viel zu erzählen hatte und so viel von ihr erfahren wollte.
Sheridan saß missmutig am Tisch, und er spürte die Spannung zwischen ihr und Marybeth, obwohl beide schwiegen.
Als Missy gerade Venedig pries, sah Sheridan plötzlich auf und sagte: »Ich bin froh, dass du zurück bist, Dad.«
»Ich auch«, sagte er.
Sie verdrehte die Augen, um ihm zu verstehen zu geben, die letzte Zeit sei ganz schön hart gewesen, und machte sich wieder über ihr Essen her. Joe sah, dass seine Frau diesen Austausch genau beobachtet hatte, und fragte sich, was ihn erwartete, wenn Missy gegangen war.
Etwas an Marybeth machte ihn nachdenklich. Sie wirkte ungemein froh, ihn zu sehen, dabei aber allzu versöhnlich und etwas zurückhaltend. Falls sie nicht böse auf mich ist, überlegte er, muss dem etwas anderes zugrunde liegen. Irgendetwas war zwischen sie getreten, aber was? Seine Suspendierung und die Tatsache, dass er einen Menschen erschossen hatte? Seine Verhaftung? Oder alles zusammen? Vielleicht war ja die räumliche Trennung schuld daran? In den fünfzehn Jahren, die sie nun verheiratet waren, hatten sie sich noch nie über einen so langen Zeitraum nicht gesehen. Einmal mehr hatte er wegen Stella ein schlechtes Gewissen, und er beschloss, Marybeth nichts davon zu erzählen. Das war jetzt sicher nicht der richtige Zeitpunkt, doch er wusste nicht, ob es den je gäbe. Und er würde sie nicht fragen, was los war und warum sie so anders wirkte, so abwehrend, ja schuldbeladen. Er würde Steak essen und den Mund halten.
Nachdem sie das Geschirr abgeräumt hatten, ging Joe durch den Flur ins Bad und warf dabei einen Blick in Sheridans Zimmer. Es sah anders aus als früher, und er brauchte einen Moment, um festzustellen, was sich verändert hatte.
»Wo sind deine Falknerei-Poster?«, fragte er. In den letzten drei Jahren hatte Sheridan eine Wand mit Abbildungen der Raubvögel Nordamerikas sowie mit Aufnahmen aus National Geographic beklebt, die Falken am Himmel und auf der Jagd zeigten. Stattdessen hingen dort nun Illustriertenfotos von Rodeoreitern und Rockmusikern. Auch die Bücher über Falknerei, die Nate ihr gegeben hatte, waren verschwunden.
Sheridan blickte von ihren Hausaufgaben hoch. »Ich hab inzwischen wohl andere Interessen.«
»Das ging aber ganz schön schnell.«
»Dad«, sagte sie, »Nate ist auf und davon. Hat Mom dir das nicht erzählt?«
»Nein.«
»Das überrascht mich nicht besonders.«
Verdutzt ging Joe weiter.
Marybeth und Missy tranken Kaffee, als Joe ins Wohnzimmer kam.
»Was ist das mit Nate?«, unterbrach er Missy, die sich über Murano-Glas ausließ.
Marybeths Gesichtsausdruck machte ihn betroffen. In ihren Zügen lag etwas Furchtsames, aber auch Warnendes. »Der ist seit drei Tagen weg.«
»Das ist nicht ungewöhnlich«, gab Joe zurück und dachte daran, dass Nate immer wieder mal für längere Zeit abtauchte.
»Diesmal ist sein Telefon abgemeldet«, sagte Marybeth.
Joe begriff noch immer nicht.
»Er ist anscheinend am gleichen Abend verschwunden wie Sheriff
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