Todfeinde
wolle wirklich ein Freund der Schüler sein und die Klasse solle ihn Mr. Kenny nennen.
»Die ist nicht da.«
»Aha«, sagte Joe nach kurzem Zögern. »Und wo ist sie?«
»Sie musste Sheridan ins Krankenhaus bringen.«
Plötzlich saß er kerzengerade. »Was?«
»Jemand hat ihr beim Volleyballtraining ins Auge gepikst.«
Dort war Marybeth also gewesen, als er am Vormittag versucht hatte, sie zu erreichen – bei Sheridans Training. Du meine Güte! »Wie schlimm ist es?«
»Keine Ahnung.«
»Lucy«, sagte Joe und musste sich zusammennehmen, um nicht laut zu werden, »erzähl mir, was passiert ist!«
Im Hintergrund lief der Fernseher. Lucy schaute vor dem Abendessen immer eine Zeit lang Zeichentrickfilme, und er erkannte die Stimme von SpongeBob.
»Ich weiß nicht recht«, meinte sie abgelenkt. »Sherry hat Mom vor ein paar Stunden angerufen und gesagt, sie muss sie vom Volleyballtraining abholen.«
»Also hat Sheridan sich gemeldet, nicht der Sportlehrer oder ein Arzt?« Joe empfand eine gewisse Erleichterung, denn wenn sie selbst telefoniert hatte, war sie wohl nicht allzu schlimm verletzt.
»Ich glaube, es war Sheridan.«
» Lucy. «
»Mom hat nur gesagt, sie sind zum Abendessen zurück. Mehr weiß ich nicht.«
Joe schüttelte den Kopf. Es gab keinen Grund, sich über Lucy zu ärgern oder sie zu tadeln. Vermutlich hatte Sheridan in aller Hektik angerufen, und Marybeth war daraufhin gleich aus dem Haus gehetzt. Er würde versuchen, sie auf dem Handy zu erreichen.
»Gut, Süße. Sag deiner Mutter, dass ich mich bald wieder melde.«
»Dad, du fehlst mir.«
Sie ist gut darin, Salz in die Wunde zu streuen, dachte er.
»Du mir auch. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch … «
Joe wählte Marybeths Handynummer, landete jedoch auf ihrer Mailbox. Wahrscheinlich hatte sie in der Eile vergessen, das Handy einzuschalten, oder sie hatte keinen Empfang. Auf der Bighorn Road zwischen Saddlestring und ihrem Haus gab es mehrere Funklöcher. Er sprach eine Nachricht aufs Band, lehnte sich zurück, steckte das Telefon in den Halter zurück und starrte frustriert auf den Fluss. Als er wieder aufs Handy sah, meldete das Display den Eingang einer Nachricht. Joe öffnete sie: Sheriff Tassell.
»Die Besprechung dauert noch und dann habe ich ein Arbeitsessen. Kommen Sie heute Abend um zehn zur Dienstwohnung. Dort gebe ich Ihnen die Schlüssel.«
Joe seufzte.
Hinter den Bäumen und Büschen verschwand das Boot mit den Touristen immer wieder aus seinem Blickfeld. Sie machen Urlaub, dachte Joe. Sie haben ein Adlernest gesehen, und nachher gehen sie nett essen und erholen sich in ihren Hotelzimmern. Sie haben Urlaub vom wirklichen Leben.
Er betrachtete die Tetons, das Boot und die Urne und stellte fest: Damit sind sie nicht allein.
Auf dem Weg in die Stadt musste Joe in einer unübersichtlichen Kurve scharf bremsen. Der Boxster, der ihn am Vorabend überholt hatte, stand auf der rechten Spur. Schwarzer Gummiabrieb auf der Straße zeugte von einer Vollbremsung. Obwohl Joe alleine im Wagen saß streckte er instinktiv den rechten Arm aus, um ein Kind oder einen Hund davor zu bewahren, gegen Armaturenbrett und Frontscheibe zu fliegen. Es fehlten nur wenige Zentimeter, und er hätte den Porsche mit der Stoßstange erwischt.
Er sprang aus dem Führerhaus und ging mit der Taschenlampe um den Porsche herum. Die Scheinwerfer des Wagens waren eingeschaltet und beleuchteten die hässliche Szene: Eine große Weißwedelhirschkuh lag auf der Straße, und die Blutlache um ihren Kopf wurde immer größer. Die Motorhaube des Porsches war verbeult, die Frontscheibe vom Aufprall wie zu einem Spinnennetz zersplittert. Eine Frau saß am Straßengraben und wiegte ein kleines, dürres und geflecktes Kitz. Das Tier war kaum sechs Wochen alt. Der Anblick machte Joe wütend.
»Sind Sie verletzt?«, fragte er ohne große Anteilnahme und bemühte sich, nicht aufgebracht zu klingen.
Die Frau sah auf, und die Scheinwerfer spiegelten sich in ihren Augen. Sie hatte breite Wangenknochen, und ihr Gesicht wirkte mitgenommen und eingefallen.
»Mir geht es so weit gut, aber die arme Hirschkuh und ihr Junges sind mir direkt vor den Wagen gerannt«, erwiderte sie. »Ich wollte noch ausweichen, aber es war zu spät.«
Joe richtete die Taschenlampe auf die Motorhaube. »Ein ziemlicher Schaden. Wie schnell waren Sie denn unterwegs?«
»Ich weiß nicht. So schnell, wie es hier erlaubt ist, schätze ich.«
»Nie und nimmer.« Joe besah sich die Delle und
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