Todfeinde
dachte daran, wie sie am Vorabend an ihm vorbeigerauscht war.
»Ist die Hirschkuh tot?«
Er kniete nieder. Das Muttertier atmete noch schwach und starrte ihm in die Augen, doch das unebene Fell über dem Brustkorb verriet, dass die Rippen gebrochen waren. Das Blut, das ihr aus Mund und Nase strömte, war hellrot und schaumig – also hatten Knochen oder Knorpel die Lunge durchbohrt.
»Noch nicht.«
»Leidet sie?«
Joe sah blinzelnd auf. »Was denken Sie denn?«
Die Frau schwieg.
Er hörte ein aus der Gegenrichtung kommendes Fahrzeug abbremsen und halten. Eine Tür ging auf und fiel wieder ins Schloss. Als er aufblickte, sah er im Scheinwerferlicht die wohlproportionierte Silhouette einer Frau.
Joe packte die Hirschkuh an den Vorderläufen, um sie in den Graben zu zerren. Ihre Beine schlugen unwillkürlich aus, und fast hätte sie sich aus seinem Griff befreit. Stella Ennis, die andere Fahrerin, gesellte sich zu ihm und packte die Hinterläufe. Joe sah Tränen in ihren Augen glänzen, doch ihre Miene wirkte entschlossen. Sie zogen das Tier vom Asphalt in das Gras am Straßengraben. Dann zog Joe seine Beretta.
»Nicht!«, flehte die Porschefrau. »Bringen Sie sie nicht um … «
»Bitte drehen Sie sich weg«, sagte Joe leise zu Stella. Sie wandte sich ab und legte die Hände vors Gesicht.
Er schoss der Hirschkuh in den Kopf. Der Schuss hallte von den dichten Wäldern links und rechts der Straße zurück. Das Tier röchelte und verstummte seufzend.
»O Gott«, sagte die Frau mit dem Kitz, »das war ja entsetzlich. Wie können Sie nur so etwas tun?«
Joe schob seine Pistole zurück ins Holster. »Lassen Sie mich das Kitz sehen.«
»Nein!«
»Nehmen Sie die Hände weg und lassen Sie mich das Kitz sehen.«
»Mr. Pickett … « Das war Stella. Ihr Tonfall klang warnend.
Langsam ließ die Frau das Kitz los. Ihr Gesicht war eine Maske des Schreckens. Das Tier reagierte, als hätte es einen Stromstoß bekommen, zerrte und strampelte, stand auf dünnen Stelzenbeinen da und wusste offenkundig nicht, was es tun sollte. Dann brach es zusammen.
»Was haben Sie ihm getan?«, schrie die Frau. »Haben Sie es zu Tode erschreckt?«
Joe war sich nicht sicher, was mit dem Kitz los war, doch als er es untersuchte, stellte er fest, dass eine Seite des Kopfes vom Zusammenstoß eingedrückt war. Als er die Taschenlampe auf die Frau richtete, sah er, dass ihre Bluse an der Stelle, wo sich der Kopf des Tiers befunden hatte, dunkelrot verfärbt war.
Joe trug das Kitz zu seiner Mutter. Es wog praktisch nichts.
Dann wandte er sich an die Frau. »Auf dieser Straße gibt es jede Menge Wildwechsel. Die ganze Nacht. Das dürfte Ihnen klar sein.«
»Es war nicht meine Schuld«, protestierte sie und erhob sich. »Die Tiere sind mir vor den Wagen gelaufen.«
»Nein«, erwiderte Joe scharf. »Sie sind viel zu schnell gefahren. In all den Jahren hatte ich noch nie einen Zusammenstoß mit einem Hirsch, geschweige denn mit zweien.«
»Ich sagte doch, es war nicht meine Schuld.« Die Frau war nun wütend. Joe musste an Popes Ermahnung denken, höflich zu sein und die Behörde in gutem Licht erscheinen zu lassen. Dann fiel sein Blick wieder auf die toten Hirsche.
»Diese Tiere sind nicht hier, um die Landschaft für Sie zu verschönern. Es sind echte Lebewesen, und Sie haben sie umgebracht. Lady, Sie sind hier nur zu Gast.«
Die Frau vergrub das Gesicht in den Händen.
»Wow«, meinte Stella Ennis bewundernd, und er sah das Weiß ihrer Zähne schimmern.
»Danke für Ihre Hilfe«, sagte er und wollte ihr schon die Hand reichen, zuckte aber zurück, weil sie voller Blut war. Trotzdem griff sie nach ihr und drückte sie. Auch ihre Hände waren blutverschmiert.
»Sagen Sie Stella zu mir.«
Etwas in ihm machte ZING !
14. KAPITEL
Marybeth Pickett hatte gerade die Pferde gefüttert, als sie im Haus das Telefon klingeln hörte. Es war schon kühl und dunkel, und aufgrund der Fahrt ins Krankenhaus würden sie zwei Stunden später zu Abend essen als sonst. Sie hetzte von der Koppel durch die Hintertür ins Haus.
»Hoffentlich ist das Dad«, meinte Sheridan, die am Küchentisch saß und Hausaufgaben machte. Lucy hatte ihnen von seinem Anruf erzählt, und dass er sich wieder melden wollte. Es roch nach Zwiebeln, Tomaten und Knoblauch. Zu ihrem eigenen Bedauern hatte Marybeth eine Tiefkühlpizza im Ofen. Seit Joe weg ist, essen wir viel zu viel von dem Zeug, dachte sie.
Sheridans bandagiertes Auge irritierte Marybeth, obwohl sie noch vor
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