Todgeweiht im Münsterland - Westfalen-Krimi
mitunter etwas belehrend.«
»Ja, wie im
richtigen Leben. Hatten Sie von Ihrer Familie die Geschichte gehört?«
Cornelia fiel wie
immer gleich mit der Tür ins Haus. Sie hätte diese Frage wohl auch gestellt,
wenn die alte Hovermann an einem Beatmungsgerät hinge. Letztendlich waren wir
natürlich auch hier, um den Mord an Sybilles Mann Horst aufzuklären.
Agathe musterte
Cornelia, als suchte sie nach den Beweggründen für diese Frage. »Uns Kindern
hat man damals erzählt, dass die beiden Frauen – Annemarie Hovermann und Berta
Schulze Nüßing – bei Unglücksfällen ums Leben gekommen seien. So etwas war zu
der damaligen Zeit und bei der schlechten ärztlichen Versorgung gar nicht
selten. Clemens Hovermann galt als in der Ferne verschollener Onkel.« Sie
wechselte schnell das Thema. »Hast du ein Foto deiner Mutter dabei, Michael?«
Ich schüttelte
entschuldigend den Kopf. Meine Mutter hätte mir etwas erzählt, wenn ich ein
Foto von ihr in meiner Brieftasche herumgetragen hätte.
»Dorothee und
Lisbeth waren meine Cousinen. Sie waren zwei Jahre jünger als ich und die
jüngsten Kinder meines Onkel Jakob. Als Zwillinge sahen sie sich sehr ähnlich,
doch vom Charakter her waren sie ganz unterschiedlich. Lisbeth war forsch,
fröhlich. Für sie schien das Leben ein großer Spaß, und sie hinterfragte ihr Tun
und Handeln selten. Dorothee dagegen kam mir nachdenklicher vor. Ihr war es
wichtig, wie es den Menschen in ihrer Umgebung ging, was sie antrieb, woran sie
glaubten. Wer die beiden besser kannte, der verwechselte sie trotz der enormen
Ähnlichkeit nie wieder.«
Agathe hatte
während des Erzählens durchs Fenster in die Ferne geschaut. Nun richtete sie
ihren Blick auf uns und erklärte: »Man sagt, wenn jemand einen Zwilling liebt,
wird er ihn nie wieder mit dem anderen Zwilling verwechseln. Und Dorothee
liebte einen jungen Mann aus der Nachbarschaft. Sie war jung und hübsch und
zweifelte nicht an den Gefühlen, die der Junge ihr gegenüber hegte. Im
Spätsommer beschloss das Paar, sich zu verloben. Die Hovermanns waren nicht
arm, man konnte den jungen Mann beglückwünschen. Drei Tage später überraschte
Dorothee ihren Klaus beim Beischlaf mit ihrer Schwester.«
Agathe hielt inne
und griff nach einem Glas Wasser. Es musste sehr anstrengend sein für die alte
Dame, eine so lange Rede zu halten. Dennoch hatte ich den Eindruck, ihr
gesamter Körper bekam zunehmend Spannung. Sie wirkte deutlich weniger
ausgelaugt und bleich wie zu Beginn unseres Gesprächs.
»Für Dorothee
brach eine Welt zusammen, es war in mehrfacher Hinsicht eine gar bittere
Enttäuschung. Ihre vertraute Schwester hatte sie schändlich hintergangen. Da
halfen auch die Beteuerungen Lisbeths nicht, sie habe den künftigen Schwager
lediglich auf die Probe stellen wollen. Und ihr Verlobter Klaus hatte sie
entweder wissentlich schon vor der Hochzeit mit ihrer Schwester betrogen, oder
aber, und diese Möglichkeit erschien ihr nicht minder schrecklich, er liebte
sie überhaupt nicht, da er nicht einmal in einer so intimen Situation den
Unterschied zwischen seiner Dorothee und der Schwester Lisbeth bemerkte.
Dorothees erste Konsequenz
bestand darin, sich die Haare abzuschneiden. Sie tat fortan alles, um anders
auszusehen, ihrer Schwester nicht mehr wie ein Ei dem andern zu gleichen. Sie
nahm sogar ein paar Kilo zu.« Jetzt ging ein Lächeln über Agathes Lippen. Für
einen kleinen Moment sah ich in ihren alten Zügen das junge Mädchen. Ein
Mädchen, dass schon früh eine Tragödie aus enttäuschter Liebe und Verrat
miterlebt und sich vielleicht deshalb zu einem Leben im Kloster entschlossen
hatte?
Vorsichtig setzte
die alte Dame ihr Glas an die Lippen und trank es in langsamen Schlucken leer.
Cornelia sprang
auf und füllte aus einer Mineralwasserflasche nach. »Brauchen Sie sonst noch
etwas?« Auch Cornelia spürte die wachsende Erschöpfung der Frau.
»Setzen Sie sich,
mein Mädchen. Ich muss heute nicht mehr arbeiten, also ist es gleich, wie müde
ich noch werde.« Sie faltete ihre knöchernen Hände auf der Bettdecke und
erzählte weiter. »Eines Tages, ich glaube, es war ein halbes Jahr nach der
herben Enttäuschung durch die eigene Schwester, war Dorothee plötzlich
verschwunden. Sie hat ihr Elternhaus, ihre Heimatstadt und ihre Familie
verlassen und ist nie wieder aufgetaucht. Und jetzt sitzt ihr Enkelsohn an
meinem Bett.«
Cornelia starrte
versonnen auf ihre Hände und sagte: »Wie unendlich traurig und enttäuscht muss
diese
Weitere Kostenlose Bücher