Todgeweiht im Münsterland - Westfalen-Krimi
Wenn Agathe eine Tante von Horst
Hovermanns Vater war, dann musste sie eine Enkelin des alten Horst Hovermann
sein. Sie wusste bestimmt eine Menge über die Familie und kannte sicher die
Vorfälle, die zum Tode ihrer Tante Berta Hovermann und kurz darauf ihres Onkels
Clemens Hovermann geführt hatten.
»Agathe ist
sechsundneunzig Jahre alt. Sie hat bis zu ihrem neunzigsten Lebensjahr im
Kloster gelebt. Dann hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, dass sie im Kreise
ihrer Familie sterben will.«
Sybilles Miene
ließ nicht erkennen, wie ihr Verhältnis zu dieser Tante war und ob ihr die Pflege
der alten Frau am Herzen lag.
Cornelia beugte
sich mit einem bewundernden Ausdruck in den Augen zu der anderen Frau vor und
fragte: »Dann pflegen Sie die alte Dame nun schon sechs Jahre lang in Ihrem
Haus?«
»Nicht ganz.
Agathe war zuerst bei Elisabeth, einer Schwester meines Schwiegervaters. Doch
da diese gesundheitlich nicht auf der Höhe ist, haben wir uns angeboten.«
Ein Leben für die
Pflege anderer, dachte ich. Erst der behinderte Sohn, dann eine alte Verwandte
ihres Mannes.
»Können wir mit
Agathe sprechen? Sie verstehen sicherlich, dass ich einige Fragen zu meiner
Großmutter habe. Sie hat sich offenbar als junge Frau von ihrer eigenen Familie
abgewendet, und ich möchte gern wissen, warum.«
Sybille legte den
Kopf in den Nacken und trank auch die dritte Tasse Kaffee aus.
»Sie ist alt, sehr
alt, aber meistens arbeitet ihr Verstand noch wunderbar. Aktuelle Ereignisse
oder Termine bringt sie schon mal durcheinander, wahrscheinlich sind sie ihr
nicht mehr wichtig genug, doch aus ihrem Leben kann sie immer noch viel
erzählen. Bis vor wenigen Wochen hat sie noch mit mir im Garten gesessen und
Bohnen gezupft.«
Sybille Hovermann
erhob sich langsam aus ihrem Sessel, um uns nun in das Zimmer der alten Dame zu
führen. »In letzter Zeit geht es ihr gesundheitlich nicht gut. Sie klagt über
häufige Übelkeit und erbricht schon mal das Abendessen. Agathe war nie
besonders kompakt, aber nun ist sie sehr abgemagert, also erschrecken Sie
nicht.«
Das Zimmer der
alten Frau lag im Erdgeschoss, zwischen Küche und Wohnzimmer, was sicher
praktisch war für die Pflege.
Sybille klopfte
und betrat erst nach kurzem Innehalten das Zimmer. Ich muss gestehen, dass mir
diese respektvolle Art gefiel.
Gut, dass sie uns
vorgewarnt hatte, denn der Anblick, der sich uns bot, war in der Tat erschreckend.
Agathe lag im Bett. Sie wirkte sauber, die grauen Haare waren gekämmt und mit
einer dünnen Spange aus der Stirn gehalten. Es roch nach einem
Desinfektionsmittel und nach Pfefferminze. Blumen standen auf einem kleinen
Tisch. Ein strahlend blauer Vorhang am Fenster schenkte freundliche
Behaglichkeit. Ich hatte keine Ahnung, wie es Agathe bei dieser anderen
Verwandten ergangen war, doch der Wechsel zu Sybille Hovermann konnte ihre Lage
kaum verschlechtert haben.
Nur sah Agathe
aus, als wäre sie schon beinahe tot. Die geschlossenen Augen lagen in tiefen
Höhlen, und die wenigen Stellen, die von ihrem Körper zu sehen waren, wirkten
weiß und eingefallen.
»Agathe, du hast
Besuch.« Sybille nahm die Hand der alten Frau und strich vorsichtig darüber.
Die Veränderung, die nun mit der Kranken vor sich ging, war enorm. Agathe
schlug die Augen auf, und ihre dunklen, wachen Pupillen schienen den gesamten
Körper mit Leben zu füllen. Sie richtete sich ein wenig auf, und Sybille schob
ihr ein Kissen in den Rücken.
»Immerzu schlafe
ich ein, als müsste ich sämtlichen versäumten Schlaf meines Lebens zum Schluss
noch nachholen. Danke, Sybille. Wen haben wir denn da?«
Sybille schob der
alten Dame eine wahrlich monströse Brille auf das kleine Gesicht. Artig stellte
ich mich und meine Begleiterin vor. Wir nahmen uns zwei einfache Stühle und
setzten uns so, dass Agathe uns gut sehen konnte.
Sybille verließ
den Raum und lehnte die Tür an. Da sie uns nicht wirklich gut kannte, hätte ich
ähnlich gehandelt.
In Kürze
schilderte ich meiner uralten neuen Verwandten die Umstände, die mich
letztendlich an ihr Bett geführt hatten. Ich schloss mit dem Satz: »Und nun
würde ich natürlich gern mehr über meine Großmutter erfahren, über die Gründe,
warum sie über ihre Herkunftsfamilie geschwiegen hat.«
Agathe starrte
eine Zeit lang vor sich hin, dann schaute sie Cornelia an und erstaunte uns mit
den Worten: »Ich habe beide Romane Ihres Bruders gelesen. Das heißt, Ingo war
so nett, mir das zweite Buch vorzulesen. Ihr Bruder klingt
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