Todtsteltzers Ehre
Vielleicht hat Evangeline die Masken durchschaut. Ich mache mir nichts mehr daraus, es noch
mal zu versuchen. Ich denke, du suchst den Tod, Finlay, suchst
ihn wie eine Geliebte, und ich werde nicht dulden, daß du die
Kinder mitnimmst. Es ist Zeit zu gehen, Finlay. Gehe jetzt.
Bitte.«
Und konfrontiert mit der kalten, unversöhnlichen Stimme
seiner Frau, mit den Tränen seiner Kinder, mit Worten, die ihn
wie Messer verletzten, drehte er sich einfach um und ging. Entfernte sich von all den Dingen, von denen er geglaubt hatte, er
sehnte sich nach ihnen. Er schloß die Tür hinter sich und wußte
dabei, daß er nie zurückkehren konnte. Weil es ein paar Kämpfe gab, die nicht mal er gewinnen konnte. Die Kinder gehörten
nicht zu seiner Zukunft. Er hatte keine Zukunft. Das hatte er
stets gewußt. Er hatte nur versucht, es für einige Zeit zu vergessen, weil er es sich so sehr wünschte.
Durch die Menschenmassen auf der Straße kehrte er nach
Hause zurück, und die Leute, die sein Gesicht sahen, beeilten
sich, ihm Platz zu machen.
Diana Vertue, heute nur noch gelegentlich Johana Wahn, arbeitete wieder hart in der Datenbanksektion des neu eingerichteten
Esper-Gildenhauses in der Parade der Endlosen. Das Gildenhaus diente dazu, Esper auszubilden, ihnen Beistand zu leisten,
sie zu politisieren und ihnen Unterschlupf zu bieten, falls es
nötig wurde. Diana verspürte überhaupt kein Bedürfnis nach
Schutz oder Beistand und interessierte sich nicht für EsperPolitik, aber sie brauchte definitiv Zugriff auf die umfangreichen Lektronendateien der Esper-Bewegung. Im Verlauf der
letzten paar Jahrhunderte hatte die Untergrundbewegung gewaltige Datenbänke über Theorie, Praxis und Geschichte aller
Esper-Fähigkeiten angelegt, eine Bibliothek des Wissens, die
bei weitem alles übertraf, was man anderswo fand. Und Diana
suchte Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen.
Hätte allerdings die Esper-Bewegung genau gewußt, welchen
Fragen sie nachging, dann hätte sie zweifellos Himmel und
Erde in Bewegung gesetzt, um Diana von ihren Lektionen
fernzuhalten. Also hatte Diana nichts verraten. Sie wollte die
Leute schließlich nicht nervös machen.
Jemand klopfte vorsichtig an die Tür. Dann ging diese einen
Spalt weit auf, gerade genug, damit ein Diener vorsichtig den
Kopf hereinstecken konnte. Die Leute im Gildenhaus hatten
auf die harte Tour gelernt, Diana nicht bei der Arbeit zu stören,
solange sie keinen wirklich guten Grund hatten. Die Persönlichkeit der Johana Wahn in ihr brach immer noch zuzeiten
hervor, wenn sie ausreichend verärgert war. Deshalb gingen die
Leute in Anwesenheit der berüchtigten Diana Vertue auf leisen
Sohlen und bemühten sich, so wenig wie möglich mit ihr zu
tun zu haben. Was ihr nur recht war. Sie drehte den Schwenkstuhl langsam und bedachte den unglücklichen Diener an der
Tür mit ihrem besten abschreckenden Blick. Er erbleichte
sichtlich und mußte schwer schlucken, ehe er seine Botschaft
ausrichten konnte.
»Verzeiht, daß ich Euch störe, höchst glorreiche, verehrte
und ausgesprochen gelassene Senior-Esperin, aber der Vorsteher des Hauses läßt erneut anfragen, ob Ihr so freundlich wärt,
mit ihm über den … Gegenstand Eurer derzeitigen Forschungen zu sprechen. Er ist überzeugt, Euch helfen zu können, falls
Ihr nur …«
»Nein«, unterbrach ihn Diana, »das denke ich nicht.« Ihre
Stimme klang rauh und kratzend und war schmerzlich für das
Ohr. Ihr Hals war durch die endlosen Schreie zerstört worden,
die sie in den furchtbaren Arrestzellen in der Hölle des Wurmwächters ausgestoßen hatte. Diana hätte die Stimmbänder heilen lassen können, hatte sich aber dagegen entschieden. Ihre
Stimme war eine nützliche psychologische Waffe. Sie bannte
den Diener mit ihrem besten starren Blick, bis er in Zuckungen
ausbrach. »Ich spreche mit dem Vorsteher des Hauses, sobald
ich fertig bin, und nicht vorher.«
»Es ist nur … Nun, Ihr belegt unsere Lektronen-Ressourcen
jetzt seit drei Wochen, und die Warteliste für andere Benutzer
ist inzwischen so lang, daß manche schon angefragt haben, ob
sie ihren Platz auf der Liste an die Nachfahren vererben können.«
Diana lächelte nicht. Das wäre ihrem Image abträglich gewesen. »Sagt ihnen, daß Geduld eine Tugend ist. Jedem, der sich
nicht besonders tugendhaft fühlt, steht es frei, sich persönlich
bei mir zu beklagen.«
»Kann ich Euch wenigstens überreden, regelmäßige Mahlzeiten einzunehmen?
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