Töchter auf Zeit
reden.«
Delia beugte sich zu mir herab, unsere Gesichter berührten sich fast. Sie nahm mir den Waschlappen von der Stirn, wendete ihn und legte ihn erneut auf, sodass er sich wieder kühl anfühlte.
»Liebes«, sagte sie. »Es ist Zeit, Helen. Es ist an der Zeit, dass du deine Tochter siehst. Und sie will ganz bestimmt ihre Mommy kennenlernen.«
»Willst du sie denn nicht sehen?«, schaltete sich Tim ein. »Jede Wette, dass sie aussieht wie du und Claire.«
Ich drehte mein Gesicht weg und kniff die Augen zusammen. »Ich kann nicht.«
»Ich weiß, du hast Angst, Helen«, sagte Delia und strich über meine Wangen. »Aber du wirst sie nicht verlieren. Dem Baby geht es gut und sie will ihre Mommy. Jetzt.«
Die Hebamme hatte inzwischen den Herzfrequenzmonitor hochgedreht, sodass ich das Herz meines Babys schlagen hören konnte:
Wupp – wupp – wupp!
»Hörst du sie?«, sagte Delia. »Hör dir mal ihren Herzschlag an. Sie ist stark, Liebes. So stark wie du.« Ich drehte den Kopf wieder zu meiner Schwiegermutter und rang nach Luft.
»Es ist Zeit, Helen.«
»Ich hab solche Angst.«
»Brauchst du aber nicht zu haben«, ermutigte sie mich. »Dieses Baby ist gesegnet. Sie hat zwei Engel, die sie in diese Welt begleiten. Deine Mutter und deine Schwester – sie sind beide hier, Helen. Sie wollen dir dein Baby bringen.«
»Aber wenn …«
Delia nahm mein Gesicht in ihre Hände und zwang mich, sie anzusehen. »Kein Aber, Helen, kein Wenn«, sagte sie. »Das Baby ist stark. Lass uns ein Ave Maria beten, für das Kind, das du verloren hast, für deine Schwester, für deine Mutter. Und dann noch eines für deine Tochter, die jetzt zu dir will.«
Mein ganzer Körper brachte ein Schluchzen hervor, das dem Vergleich mit einer Flutwelle durchaus standgehalten hätte. Ichbrach in Tränen aus, drückte die Hände meiner Schwiegermutter ganz fest, schloss dann meine Augen und betete. Die Hebamme sah mich zufrieden an, da sie bemerkt hatte, dass die Wehen nun weitergingen. Zwölf Minuten später kam der Arzt, setzte sich zwischen meine Beine und half Grace, das Licht der Welt zu erblicken.
Achtundvierzig Stunden später waren wir mit unserer neugeborenen Tochter zu Hause.
Grace, Anmut – ich hatte mich für diesen Namen entschieden, weil ich Claires Anmut immer so bewundert hatte. Mittlerweile war mir klar, dass diese Eigenschaft eine Gabe Gottes war.
Sam brabbelte Grace voll, küsste ihre kleinen Hände und Füße und kuschelte sich zufrieden an meine Seite. Auch Maura war von ihrer neuen Cousinenschwester hellauf begeistert und bewunderte sie mit vielen »Ohhs« und »Ahhs«. Eine Zeit lang saß Sam links und Maura rechts von mir, während Grace an meiner Brust lag. Ich konnte förmlich spüren, wie sich meine Liebe wie eine Decke über die drei ausbreitete. Ich sah hoch zur Decke und ließ meinen Tränen freien Lauf.
Einen Monat später klopfte Dr. Elle Reese an die Tür. Sie wollte ich mich ein letztes Mal nach Sams Adoption besuchen. Heute trug sie eine jadefarbene, seidig glänzende Tunika über weißen Schlaghosen. Der Ausschnitt ihres Oberteils gab einen beträchtlichen Blick auf ihr Dekolleté und ihren seidenen Büstenhalter frei. Ihre silbernen Schuhe hatten acht Zentimeter hohe Absätze, ihre Ohrringe die Form von schweren Regentropfen.
»Helen, Helen, Helen«, sagte sie im Singsang einer Diva. »Sie hatten garantiert jede Menge zu tun.« Elle deutete auf meine neue Familie: Maura und Sam am Boden, vor sich ihre Stickrahmen, die kleine Grace in meinen Armen. »Nachunserem ersten Gespräch entwickelte ich die Theorie, dass Sie der Tod Ihrer Mutter mit einem Loch im Herzen zurückgelassen hatte, und dass Sie bestimmt einmal ein Kind haben würden, um dieses Loch zu schließen.«
»Nicht schlecht!«
»Hat es funktioniert?«
»Ja, das hat es. Diese Mädchen so sehr zu lieben, wie es meine Mutter getan hat – auch wenn diese Liebe abrupt geendet hat –, hat mein zerbrochenes Herz auf jeden Fall geheilt.«
»Das ist schön, das war das
Ziel.
Alle Beziehungen in unserem Leben sollten uns etwas geben.«
Ich versuchte, mich Elle zu erklären: »Meine Heilung hat sich an verschiedenen Stellen auf einmal vollzogen. Die alten Wunden sind auf jeden Fall vollständig abgeheilt. Als ob ich das zurückbekommen hätte, was mir als Kind genommen worden war. Ich werde ja nie mehr die Tochter meiner Mutter sein können. Aber jetzt bin ich die Mutter und die Tante dieser Mädchen. Das hilft mir sehr. Keine
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