Töchter der Sechs (German Edition)
Schrift hatte erscheinen lassen.
Yerina war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, dass sie nicht länger allein war.
Obgleich sie zunächst mit den anderen Priesterinnen den Tempel verlassen hatte, war sie nach einer kurzen Pause und Stärkung dahin zurückgekehrt. Die seltsamen Zeichen hatten Zada keine Ruhe gelassen. Bei ihrer Befragung hatte sie nicht alles gesagt. Zwar hatte sie beim Berühren des Würfels wirklich nichts gespürt, aber als sie am Morgen die Zeichen betrachtet hatte, so waren sie ihr seltsam vertraut vorgekommen. Was immer da vor sich ging, es hatte etwas mit ihr zu tun. Jedoch konnte sie nicht genau sagen, worin die Verbindung bestand. Deshalb wollte sie den Würfel noch einmal in Ruhe betrachten. Als sie den Tempel betrat, hielt sie ihn zunächst für leer. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, bemerkte sie Yerina, die gedankenverloren auf den Würfel starrte. Vorsichtig näherte sie sich, um die Oberpriesterin nicht zu erschrecken. Jetzt schien diese Zada entdeckt zu haben. Sie nickte Zada kurz zu. Dennoch sprach sie sie nicht an, als Zada sich dem Würfel näherte und mit den Händen über die Zeichen strich. Das Gefühl der Vertrautheit verstärkte sich. Ohne es zu merken, begann sie Worte vor sich hinzumurmeln.
Nachdem sie sie bemerkt hatte, ließ Yerina Zada zunächst gewähren. Sicher war die junge Priesterin aus dem gleichen Grund wie sie hier: Sie suchte Antworten. Dann hörte sie Worte, die sie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gehört hatte. Zada war wieder in jene seltsame Sprache verfallen, die sie gesprochen hatte, als sie vor zwölf Jahren am Strand bei Aaran gefunden worden war. Schon lange hatte Zada die Worte, deren Bedeutung sie selbst nicht kannte, nicht mehr verwendet, schien sie vollständig vergessen zu haben. Nun aber sprudelten sie aus der jungen Priesterin heraus. Sicher gab es da einen Zusammenhang.
Zada hatte die Berührung der Zeichen unterbrochen und sofort versiegten die Worte aus ihrem Mund. Sie wandte sich der Oberpriesterin zu: „Es ist seltsam. Mir ist, als hätte ich solche Zeichen bereits einmal gesehen.“
„Nun, die Wege der Götter sind bisweilen nicht leicht nachvollziehbar. Möglicherweise wollen sie uns prüfen. Was hatten die Worte zu bedeuten, die Ihr vorhin spracht?“
Zada schaute verwirrt. „Was meint Ihr?“
„Nun, als Ihr den Würfel berührtet, habt Ihr wieder die Sprache benutzt, auf die Ihr als Kind bisweilen verfallen seid.“
„Ich habe nicht gemerkt, dass ich sprach. Meint Ihr, es besteht ein Zusammenhang zwischen meinen Worten und den Zeichen auf dem Heiligen Würfel?“
„Ich vermute, dass es sich bei den Zeichen um Buchstaben einer uns fremden Sprache handelt. Vielleicht ist es gerade jene Sprache, die Ihr gesprochen habt, als wir euch damals aufnahmen.“
„Nun, selbst wenn da ein Zusammenhang besteht, so wird uns das nicht bei der Lösung dieses Rätsels helfen. Schon als ich noch ein Kind war, ist mir die Bedeutung der Wörter abhandengekommen.“
„Dessen bin ich mir bewusst, Zada. Ich denke, wir werden Gelehrte hinzuziehen. Vielleicht können sie uns helfen. Ich werde noch heute einen Boten losschicken und darum ersuchen, dass man uns einen Gelehrten schickt, der die Schrift untersucht. Dennoch möchte ich Euch bitte, zu versuchen, Euch zu erinnern. Vielleicht fällt Euch die Bedeutung der Worte wieder ein. Möglicherweise seid Ihr der Schlüssel zu diesem Rätsel. Eure Verflechtungen in die Vorgänge und Eure ungeklärte Herkunft mögen ein Indiz dafür sein, dass die Götter Euch in dieser Sache eine wichtige Rolle zugedacht haben.“
Yerina sah, dass ihre Worte Zada verstört hatten und fügte hinzu. „Habt keine Angst, sollten Euch die Götter wirklich eine besondere Aufgabe zugedacht haben, so müsst Ihr sie nicht allein meistern. Ihr werdet von allen Seiten Unterstützung erfahren, dessen könnt Ihr sicher sein.“ Beschützend nahm sie die junge Priesterin in ihre Arme. „Ich denke, dies ist ein guter Zeitpunkt, Eure Eltern zu besuchen. Sicher wollt Ihr euch mit ihnen über die Geschehnisse austauschen. Ich werde sie heute Abend ebenfalls aufsuchen und Euch danach zurück in den Tempel begleiten.“
Zada nickte dankbar und machte sich sogleich auf den Weg in die Stadt.
Über ihr Gespräch war es Mittag geworden, gleich würde der Tempel wieder für die Gläubigen öffnen. Wenn sich die Gerüchte über die Geschehnisse der letzten
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