Töchter der Sechs (German Edition)
Meditieren gereicht, doch je länger die Reaktion der Götter auf sich warten ließ, desto unsicherer wurde sie. Auch fühlte sie sich einsam, obgleich sie doch von ihr wohlgesonnenen Menschen umgeben war. Wie sehr wünschte sie sich, einfach in den Tempel von Aaran zurückkehren zu können, zu Yerina und zu ihrer Familie. Doch tief in ihrem Inneren gab es da noch eine andere Stimme, ein Sehnen nach ihrer ursprünglichen Heimat Helwa. Doch stärker als der Wunsch ihr Geburtsland wiederzusehen, waren die Ängste, dass es nicht so wäre, wie sie es in Erinnerung hatte, dass sie ihre leiblichen Eltern nicht finden würde. Möglicherweise war das, was sie für Erinnerungen hielt, doch nur eine Einbildung. Je länger sie über die Erinnerungen nachgedacht hatte, desto unwirklicher waren sie ihr erschienen.
Alle diese Gedanken trieben sie um, während sie sich bemühte, ihren Teil zur Vorbereitung der Reise beizutragen. Da es sonst kaum noch etwas zu tun gab, ging sie an diesem Tag Carlynn zur Hand, die haltbaren Proviant zusammenstellte, der am nächsten Tag verladen werden sollte. Ganz versunken in ihre Gedanken, reagierte sie nicht, als Carlynn sie ansprach. Erst als sie deren Hand auf ihrem Arm spürte, wandte sie sich Darijas Mutter zu. Diese schien bemerkt zu haben, dass ihre Worte Zada nicht erreicht hatten, denn sie wiederholte sie: „Ich denke, für heute haben wir genug gearbeitet. Ich möchte Euch etwas zeigen. Kommt und begleitet mich auf einem Spaziergang.“
Gemeinsam verließen sie die Stadt und erklommen über einen gewundenen Pfad die Klippen, die mit ihren grünen Hängen über der Stadt aufragten. Als sie den höchsten Punkt erreicht hatten, setzte sich Carlynn nieder und bedeutete Zada, es ihr gleichzutun. Den ganzen Weg über hatten sie geschwiegen, nun aber begann Carlynn zu erzählen: „Ihr müsst wissen, dass dies ein besonderer Ort für mich ist. Hier oben, ganz in der Nähe, ist meine Mutter begraben. Noch immer zieht es mich hierher, wenn ich Sorgen habe oder über irgendetwas nachdenken muss. Der Ort vermittelt mir eine Ruhe, die ich in Jal nirgendwo – nicht einmal im Tempel – finden kann. Auch Euer Herz scheint mir vor Sorgen schwer. Deshalb habe ich Euch gebeten, mich hierher zu begleiten.“ Sie schaute Zada an, die noch immer stumm dasaß, nicht wissend, was sie sagen sollte. Carlynns Worte überraschten sie; sie hatte gedacht, es sei ihr gelungen, ihren Gemütszustand vor den anderen zu verbergen. Ihr Gegenüber fuhr fort: „Ihr braucht nichts zu sagen und ich möchte Euch auch in keiner Weise bedrängen. Ich weiß, wie schwer es ist, wenn man unerwartet aus seinem Leben gerissen wird. Sicher habt Ihr Euch etwas anderes erhofft, als auf Geheiß der Götter auf eine solch gefährliche Reise zu gehen. Ich nehme an, Ihr sorgt Euch, ob Ihr die in Euch gesetzten Erwartungen erfüllen könnt. Bestimmt fragt Ihr Euch, ob Ihr im Begriff seid, etwas Falsches zu tun. Vielleicht zweifelt Ihr auch an Eurer Eignung für diese Unternehmung. Welche Sorgen Euch auch umtreiben, Ihr könnt mir gerne davon erzählen. Ich kann Euch keine Hilfe versprechen, wohl aber tröstende Worte und eine Schulter zum Anlehnen.“
Mit so viel Liebeswürdigkeit und Verständnis hatte Zada nicht gerechnet. Noch ehe sie sich dessen voll bewusst war, sprudelten die Worte aus ihr heraus. Sie erzählte Carlynn von ihren Ängsten, ihrer Unsicherheit und dem Schweigen der Götter. Manchmal stockte ihre Stimme und sie musste sich erst sammeln, bevor sie fortfahren konnte. In ihren Augen bildeten sich Tränen, doch es gelang ihr, diese zurückzuhalten. Carlynn blickte sie voller Verständnis und Mitgefühl an und ließ sie reden. Erst als sie geendet hatte, nahm sie sie in den Arm. Zada drückte ihr Gesicht an die Brust der älteren Frau und ließ ihren Tränen endlich freien Lauf, während Carlynn Worte des Trosts und Zuspruches sprach.
Wie lange sie so auf der Klippe gesessen hatte, vermochte Zada im Nachhinein nicht zu sagen. Auch von den ermutigenden Worten war ihr wenig Konkretes im Gedächtnis geblieben. Aber als sie die Klippe hinabstiegen, war es ihr, als habe sie einen Großteil ihrer Sorgen dort oben zurückgelassen. Fast unbeschwert redete sie mit Carlynn über die Chancen, die die Reise in ihr Heimatland ihr bot. Vielleicht würde es ihr wirklich gelingen, ihre Eltern zu finden. Wie erleichtert würden diese sein, ihr Kind nach dreizehn Jahren wiederzusehen.
Auch dass sie keine Antwort auf ihre
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