Töchter des Mondes, Band 01: Cate (German Edition)
Schoß, als die beiden kastanienbraunen Pferde lostraben. Ich nehme an, die offene Kutsche war Pauls Idee. Seine Mutter hat ständig Angst, sich eine Erkältung einzufangen.
»Guten Tag, Mrs McLeod«, sage ich. »Wie geht es Ihnen?«
Sie erzählt mir von ihren neuesten Schmerzen und lächelt mich dabei säuerlich an. Paul ist ihr Liebling; ich glaube, sie würde sich aus keinem Mädchen, für das Paul sich interessiert, etwas machen, aber mich fand sie schon immer besonders lästig. Wahrscheinlich hält sie mich für zu verwegen.
»Wie war die Ausbildung?«, frage ich Paul.
»Paul ist zu Mr Jones’ rechter Hand geworden. Und er war ganz der Gelehrte an der Universität«, brüstet sie sich. »Erzähl es ihr, Sohn.«
»Ich denke, dafür dass ich so viel Zeit in der Bibliothek verbracht habe, habe ich es ganz gut gemacht.« Paul zieht den Kopf ein. Ich wette, er hat, verglichen damit, wie viel er sich in der Stadt herumgetrieben und gezecht hat, herzlich wenig Zeit in der Bibliothek verbracht.
»Er ist ja so bescheiden«, sagt Mrs McLeod.
»New London ist großartig. Überall wird unablässig gebaut, außer sonntags. Neue Fabriken, neue Lagergebäude unten am Hafen, neue Häuser für die Männer, die sich in den Fabriken ein Vermögen erarbeiten. Und die großen Häuser haben jetzt alle Gaslampen. Manche haben sogar innenliegende Wasserklosetts!«
»Stellen Sie sich das vor«, japst Mrs McLeod.
»Die Straßen sind das reinste Tollhaus. Den ganzen Tag kommen Züge und bringen Arbeiter vom Land, die nach Anstellungen suchen. Im Hafen landen Schiffe mit Waren und Leuten aus Europa oder sogar Dubai. Die Stadt platzt aus allen Nähten. Ganze Familien leben zusammengepfercht in Dreizimmerwohnungen über den Läden und Tavernen. Es ist eine überwältigende Zeit für Architekten.«
Ich kann mir das nicht wirklich vorstellen. Das einzige Leben, das ich kenne, ist das hier in Chatham. Ich war noch nie außerhalb von Maine. Noch nie weiter weg als am Meer. »Tavernen? Ich kann mir nicht denken, dass das der Bruderschaft gefällt.«
Paul lacht in sich hinein. »Sie werden genauso schnell wieder geschlossen, wie sie eröffnet werden. Überall sind Schilder, die vor Alkohol und Glücksspiel warnen.« Er verschränkt die Arme hinterm Kopf, und da fällt mir auf, wie ausgesprochen gut sein Anzug sitzt. »Die Clubs werden mit eiserner Faust regiert, sagt Jones, aber er hat mich zu seinem Club mitgenommen, und Sie werden mir nicht glauben, was da – «
»Paul. Ich bin mir sicher, Miss Cahill ist nicht an deinen skandalösen Geschichten interessiert.« Mrs McLeod stellt ihre Füße auf die Wärmflasche am Boden. »Ist Ihnen wirklich nicht kalt, meine Gute?«
Ich würde liebend gerne skandalöse Geschichten hören, aber das kann ich natürlich schlecht sagen. Stattdessen versichern Paul und ich, dass uns warm genug ist. Ich nehme einen tiefen Atemzug, als wir an einem Obstgarten mit reifen roten Äpfeln vorbeikommen. Auf der anderen Seite des Weges sind die Bäume bereits abgeerntet, die Äpfel gepflückt. Die süße Luft riecht nach Zuhause, nach Herbst. Ich frage mich, wie New London wohl riecht – nach Rauch von den vielen Fabriken? Nach Jauche von den ganzen Menschen und Tieren?
»Und jetzt, bleiben Sie jetzt hier?«, frage ich Paul.
»Mal sehen. Ich habe Chatham auf jeden Fall vermisst.« Er schaut mich mit seinen grünen Augen so lange an, bis ich wieder spüre, wie ich rot werde, und den Blick abwende.
»Es war irgendwie nicht das Gleiche ohne Paul, nicht wahr, Mrs McLeod?«, sage ich leichthin, um von mir abzulenken. Sie ist nur zu froh über die Gelegenheit, zu erwähnen, wie sehr sie ihren Sohn vermisst hat, wie still das Haus ohne ihn war und dass sie ein Abendessen geben will, um seine Rückkehr zu feiern.
»Sie kommen doch, oder? Sie und Maura und Ihr Vater«, schlägt Paul vor.
»Selbstverständlich.« Das ist eine Einladung, die ich gern annehme. Die McLeods sind unsere nächsten Nachbarn. Als Kind bin ich in ihrem Haus fast so oft ein- und ausgegangen wie in unserem eigenen. Ich muss grinsen, als ich daran denke, wie Paul mich einmal angestiftet hat, auf der Mauer vom Schweinestall der McLeods zu balancieren. Ich fiel hinunter und verstauchte mir den Knöchel, und vor lauter Schmerzen und dem Schreck wurde ich ohnmächtig. Paul trug mich nach Hause. Er hatte Angst, mich umgebracht zu haben, doch nachdem er sich sicher war, dass mit mir alles in Ordnung war, zog er mich gnadenlos damit auf, wie
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