Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
Bettkante. Sie trägt ein neues Kleid, ein gelbes Brokatkleid mit voluminösen orangefarbenen Ballonärmeln, einer orangefarbenen Taftschleife an der Brust und orangefarbenen Chiffon-Rüschen am Saum. Es steht ihr gut. Habe ich ihr das eigentlich schon mal gesagt? Ich bin immer so sehr mit meinen Unterrichtsstunden beschäftigt – und damit, Tess und Maura zu vermissen …
»Vielleicht will ich auch einfach nur mal fünf Minuten für mich sein! Vielleicht zerbreche ich mir auch über wichtigere Dinge den Kopf, als darüber nachzudenken, wer gerade ein neues Kleid trägt oder was Alice schon wieder Gemeines gesagt hat«, blaffe ich sie an. Ich ziehe die Schultern hoch und verschränke die Arme mit dem Buch vor der Brust.
Rilla wird knallrot. »Das ist auch nicht alles, worüber ich mir Gedanken mache, und das weißt du auch – oder du würdest es wissen, wenn du dir zur Abwechslung die Mühe machen würdest, mit mir zu reden. Wir wissen alle, dass die Dinge schlimm stehen, aber deswegen müssen wir nicht jede einzelne Sekunde darüber nachgrübeln. Du könntest ruhig mal versuchen, ab und zu ein bisschen Spaß zu haben.«
»Ja, vielleicht«, flüstere ich. Die Enttäuschung in ihrer Stimme lässt mich kapitulieren.
Ich könnte mir ja wirklich mehr Mühe geben. Ich könnte mit den anderen nach dem Abendessen Schach oder Dame oder Scharade spielen, durch die Modezeitschriften aus Dubai blättern, mich über die neuen Verhaftungen der Bruderschaft unterhalten und was die Schwestern als Nächstes tun sollten. Das ist es, was die anderen Mädchen von mir erwarten. Ich könnte hier durchaus Freundinnen haben, wenn ich denn wollte.
Aber das würde bedeuten, dass ich das hier als mein neues Zuhause akzeptieren müsste, dass mein Platz hier ist, unter diesen Fremden, und dass die Schwesternschaft meine Zukunft ist, nicht Finn. Ich müsste akzeptieren, dass es kein Zurück mehr gibt und dass es richtig von der Schwesternschaft war, mich hierherzubringen, trotz ihrer schmutzigen Methoden und meiner Vorbehalte – eben weil ich hierhergehöre.
Ich hole tief Luft, lehne mich gegen das Kopfteil aus Messing zurück und strecke die Beine vor mir aus. »Wie bist du hier gelandet, Rilla?«
Sie sieht mich finster an. »Fragst du, weil du es wirklich wissen willst oder weil du dich dazu verpflichtet fühlst?«
»Ich will es wirklich wissen«, sage ich aufrichtig. »Und es tut mir leid, dass ich nicht schon eher danach gefragt habe.«
»Nun gut. Ich habe etwas ziemlich Dummes getan.« Sogar im Kerzenlicht kann ich sehen, wie Rillas Ohren rot anlaufen. »Da war ein Junge, in den ich verliebt war. Charlie Mott. Er hatte schwarze Haare und ein schwarzes Pferd, und er sah einfach unheimlich gut aus! Ich wollte unbedingt, dass er auf mich aufmerksam wird. Eines Samstagabends sind wir mit ein paar anderen auf eine Schlittenkutschfahrt gegangen, und ich habe zugesehen, dass ich neben ihm saß. Aber Emma Carrick saß auf seiner anderen Seite, und er hat den Arm um sie gelegt statt um mich. Ich war ja so eifersüchtig. Es ist dann alles etwas aus dem Ruder gelaufen. Ich dachte noch, wenn sie doch nur nicht so hübsch wäre, und auf einmal war sie es nicht mehr – sie war hässlich! Sie bekam ganz plötzlich einen furchtbaren Nesselausschlag, und ihre Nase wurde so lang!« Rilla zeigt ungefähr fünfzehn Zentimeter vor ihre eigene wohlgeformte kleine Nase. »Als Charlie es sah, ist er entsetzt aufgesprungen. Und ich … nun ja, ich konnte nicht anders, als zu lachen.«
Gütiger Himmel, was für eine alberne Gans. Doch im nächsten Moment stelle ich mir vor, Finn würde die Hand eines anderen Mädchens halten, und fühle mit ihr.
»Emma fing an zu weinen wegen ihrer Nase, und ich hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen, ganz ehrlich, also habe ich es wieder rückgängig gemacht. Aber dann schrie sie wie verrückt, dass ich sie verhext hätte, weil ich eifersüchtig auf sie sei. Da haben die Jungen den Schlitten zur Kirche hinuntergefahren und mich angezeigt. Charlie Mott hat mich danach noch nicht einmal mehr angesehen«, seufzt Rilla.
»Aber Schwester Cora hat sich bei deiner Verhandlung für dich eingesetzt.«
»Ja.« Rilla zieht die Knie an die Brust und legt das Kinn auf ihrem gelben Brokatrock ab. »Und sie hat mich hierhergebracht. Sonst wäre ich sicherlich nach Harwood geschickt worden.«
Schwester Cora hat ein großes Netzwerk von Späherinnen, bestehend aus Gouvernanten und ehemaligen Klosterschülerinnen, die Schwester
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