Töchter des Windes: Roman (German Edition)
normalerweise nur dann rauchte, wenn er bei der Arbeit war.
»Das erste, woran ich mich erinnere, ist der Gestank. Müll, der gerade zu verrotten beginnt, Schimmel, kalter Zigarettenrauch«, fügte er hinzu und blickte mit einem ironischen Lächeln auf den Rauch, der von seiner Zigarette zur Decke stieg. »Gras. Nicht das, das man mäht, sondern das, das man raucht. Du hast wahrscheinlich in deinem ganzen Leben noch nie Pot gerochen, stimmt’s?«
»Nein.« Sie faltete die Hände im Schoß und sah ihn reglos an.
»Nun, das ist meine erste echte Erinnerung. Der Geruchssinn ist ausgeprägter als die anderen Sinne, so daß man Gerüche —ob gute oder schlechte —nur schwer vergißt. Außerdem erinnere ich mich an Geräusche. Erhobene Stimmen, laute Musik, jemand, der im Nebenzimmer mit jemand anderem schläft. Ich erinnere mich daran, daß ich Hunger hatte, aber daß ich nicht aus meinem Zimmer konnte, weil ich mal wieder dort eingeschlossen war. Die meiste Zeit war sie high, so daß sie sich nicht immer daran erinnerte, daß sie ein Kind hatte, das es zumindest mit Nahrung zu versorgen galt.«
Er sah sich nach einem Aschenbecher um und lehnte sich gegen den Ankleidetisch. Eigentlich war es gar nicht so schwer, darüber zu sprechen, merkte er. Es war beinahe so, als dächte er sich eine Szene aus. Beinah.
»Einmal hat sie mir erzählt, sie wäre mit sechzehn von zu Hause fortgelaufen. Ihre Eltern und all die Regeln dort hätten sie genervt. Sie waren die totalen Spießer, sagte sie. Gerieten vollkommen außer sich, als sie dahinterkamen, daß sie Dope rauchte und sich heimlich mit Jungen traf. Dabei wollte sie nichts anderes, als ihr eigenes Leben leben, ihr eigenes Ding machen, ohne daß ihr dabei jemand in die Quere kam. Also ist sie eines Tages einfach abgehauen und nach San Francisco getrampt. Zu Anfang hat sie bloß den Hippie gespielt, aber dann fing sie mit harten Drogen an, experimentierte mit allem möglichen Scheiß herum und bezahlte dafür, indem sie betteln ging oder sich verkaufte.«
Er erzählte ihr, daß seine Mutter eine Prostituierte und obendrein ein Junkie gewesen war und wartete auf einen Entsetzensschrei. Als sie ihn allerdings weiterhin nur mit ihren kühlen, unergründlichen Augen betrachtete, zuckte er mit den Schultern und fuhr fort.
»Sie muß so um die achtzehn gewesen sein, als sie schwanger wurde. Nach allem, was sie mir erzählt hat, hatte sie bereits zwei Abtreibungen hinter sich und hatte vor einer dritten
einfach Angst. Sie wußte nicht genau, wer der Vater war, aber ihrer Meinung nach mußte es einer von drei Kerlen sein. Also zog sie mit einem von ihnen zusammen und beschloß, mich zu behalten. Als ich ungefähr ein Jahr alt war, wurde sie den Typen leid und zog zu jemand anderem. Er hat den großen Beschützer gespielt, wenn sie auf die Straße ging, und sie mit Drogen versorgt, aber er war ein bißchen zu grob zu ihr, so daß sie ihm schließlich ebenfalls den Laufpaß gab.«
Gray drückte seine Zigarette aus und gab Brianna Gelegenheit zu einer Reaktion. Aber sie saß weiterhin einfach schweigend auf dem Bett.
»Tja, die nächsten paar Jahre können wir überspringen. Soweit ich mich erinnere, kam es zu keiner großen Veränderung. Sie zog weiter von Mann zu Mann und nahm weiterhin das harte Zeug. Wenn sie mal halbwegs bei sich war, war sie ein relativ erträglicher Mensch. Sie hat mir hin und wieder eine Ohrfeige verpaßt, aber richtig geschlagen hat sie mich nie — ich nehme an, dazu hat es ihr an Elan und Interesse gefehlt. Und eingesperrt hat sie mich, damit ich nicht herumstreunte, wenn sie selbst durch die Gegend zog oder ihren Dealer traf. Unsere Wohnung war der reinste Schweinestall, und ich erinnere mich noch gut daran, wie kalt es war. In San Francisco wird es manchmal verdammt kalt, das sage ich dir. Und so fing auch das Feuer an. Irgend jemand in unserem Haus warf einen tragbaren Heizkörper um. Ich war fünf, ganz allein, und wie so oft eingesperrt.«
»Oh, mein Gott, Grayson.« Sie preßte sich die Hand vor den Mund. »O Gott.«
»Ich wachte davon auf, daß ich furchtbar hustete«, fuhr er reglos fort. »Das Zimmer war von dichten Rauchwolken durchzogen, und ich hörte Sirenen und Geschrei. Ich war derjenige, der schrie, und ich hämmerte verzweifelt gegen meine Zimmertür. Ich bekam kaum noch Luft, und ich hatte entsetzliche Angst. Ich erinnere mich noch genau dran, wie ich
weinend auf dem Fußboden lag. Dann brach ein Feuerwehrmann durch die Tür und
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