Töchter des Windes: Roman (German Edition)
aufhalsen, überlegte er. Doch dann sah er sie an und unterdrückte nur mit Mühe einen Fluch. Sie wirkte erschöpft. »Ich möchte auf dem Rückweg noch einmal anhalten.«
Sie wollte widersprechen, ihn bitten, daß er sie direkt nach Hause brachte, doch dann klappte sie den Mund wieder zu. Schließlich war es sehr freundlich von ihm, daß er sie fuhr, und sicher ertrüge sie noch ein paar Minuten der Untätigkeit, ehe sie all ihre Anspannung in Arbeit entlud.
Er schwieg und hoffte, das von ihm anvisierte Ziel brächte die Farbe in ihre Wangen und die Wärme in ihre Stimme zurück.
Sie öffnete die Augen erst, als er auf die Bremse trat, den Motor abstellte und aus dem Wagen stieg. Dann allerdings starrte sie sprachlos die Burgruine an. »Hier mußtest du anhalten?«
»Hier wollte ich anhalten«, verbesserte er. »Ich habe die Ruine an meinem ersten Tag hier entdeckt. Sie spielt eine wichtige Rolle in meinem Buch. Ich mag die Atmosphäre.«
Er umrundete den Wagen und öffnete die Beifahrertür. »Komm.« Als sie sich nicht bewegte, beugte er sich hinab und löste ihren Gurt. »Komm. Es ist toll. Von oben hat man eine phantastische Sicht.«
»Ich muß noch Wäsche machen«, beschwerte sie sich und hörte selbst, daß ihre Stimme wie die eines schmollenden Teenagers klang. Dann jedoch stieg sie, wenn auch widerwillig, aus.
»Die Wäsche läuft dir nicht weg.« Er nahm ihre Hand, zog sie über das hohe Gras, und statt zu erwidern, die Ruine liefe wohl ebenfalls nicht weg, fragte sie: »Du benutzt diesen Ort in deinem Buch?«
»Für die große Mordszene, jawohl.« Er grinste, als er das Unbehagen und den Argwohn in ihren Augen sah. »Du hast doch wohl keine Angst? Normalerweise probiere ich die Morde nicht selber aus.«
»Red keinen Unsinn.« Aber als sie zwischen die hohen Steinmauern trat, erschauderte sie.
Wild wucherndes Gras bahnte sich zwischen den Steinen auf dem Boden seinen Weg. Sie blickte hinauf, wo einst, vor vielen Jahren ein Stockwerk über dem anderen gewesen war. Die Zeit und verschiedene Kriege jedoch hatten dafür gesorgt, daß nun wieder der Himmel zu sehen war.
Die Wolken schwebten lautlos wie Geister über ihr.
»Was, glaubst du, haben die Menschen hier gemacht?« fragte Gray.
»Gelebt. Gearbeitet. Gekämpft.«
»Das ist zu allgemein. Benutz deine Phantasie. Siehst du nicht die Menschen vor dir, die hier herumlaufen? Es ist Winter und eisigkalt. Eine Eisschicht auf den Wasserfässern, Frost im Boden, der unter den Schritten der Menschen knackt. Die Luft ist vom beißenden Rauch der Feuer erfüllt. Ein Baby schreit, es hat Hunger, und dann wird es still, als die Mutter ihre Brust entblößt.«
Er zog sie mit sich, körperlich, emotional, bis sie beinahe dasselbe sah.
»Soldaten exerzieren, und man hört, wie ein Schwert klirrend gegen das andere schlägt. Ein Mann eilt vorüber, er humpelt von einer alten Wunde, sein Atem formt kalte Wolken vor seinem Mund. Komm, gehen wir die Treppe rauf.«
Er zog sie in Richtung der engen, gewundenen Stufen, wobei er immer wieder auf höhlenartige Öffnungen in den Steinen wies. Sie überlegte, ob dort wohl Menschen geschlafen hatten oder ob dort etwas gelagert worden war. Oder vielleicht vor dem Feind versteckt, auch wenn vor seinen Augen auf Dauer nie etwas verborgen geblieben war.
»Eine alte Frau trägt eine Öllampe vorbei. Sie hat eine gezackte Narbe auf dem Handrücken und einen furchtsamen Blick. Eine andere Frau bringt frisches Stroh für den Boden, aber sie ist jung, und ihr verträumter Blick verrät, daß sie an ihren Geliebten denkt.«
Gemeinsam betraten sie das Zwischengeschoß. »Die Anhänger Cromwells fallen ein. Schreie hallen durch die Nacht, die Luft ist vom beißenden Geruch des Rauchs und vom süßlichen Gestank von Blut erfüllt, man hört das widerliche Krachen von Metall, das auf Knochen schlägt, und das Kreischen eines Mannes, den der Schmerz durchzuckt. Speere werden geschleudert, und ein Körper wird auf den Boden genagelt,
wo die Glieder noch zucken, ehe der Tod auch die letzten Nervenstränge erreicht. Krähen kreisen über allem, warten auf das Festmahl, das ihnen bereitet wird.«
Er drehte sich zu ihr um, bemerkte ihren schreckgeweiteten Blick und lachte leise auf. »Tut mir leid, manchmal geht einfach meine Phantasie mit mir durch.«
»Offenbar ist es nicht nur ein Segen, wenn man über eine derart rege Phantasie verfügt.« Wieder erschauderte sie. »Ich glaube, ich möchte gar nicht alles so deutlich vor mir
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