Töchter des Windes: Roman (German Edition)
ohne Einkaufsliste aus dem Haus.«
Sie sah ihn wieder an, wobei der Blick aus ihren rauchiggrünen Augen wachsam und zugleich ein wenig furchtsam
war. Gray spürte, wie eine Woge der Hitze aus seinen Fußballen direkt in seine Lenden schoß. Seine Finger gruben sich krampfhaft in ihre Hüfte, doch dann zwang er sich einen Schritt zurück und atmete keuchend aus.
»Die langsame Tour bringt mich früher oder später um«, murmelte er.
»Wie bitte?«
»Schon gut. Also hol deine Einkaufsliste und was du sonst noch brauchst. Ich fahre dich.«
»Ich habe keine Einkaufsliste. Ich muß nur zu meiner Mutter, um ihr und Lottie beim Packen behilflich zu sein. Es besteht also keine Notwendigkeit, daß du mich fährst.«
»Ich denke aber, eine kleine Spazierfahrt täte mir gut. Wie lange denkst du, daß du dort sein wirst?«
»Zwei Stunden, vielleicht drei.«
»Dann bringe ich dich bei deiner Mutter vorbei und hole dich einfach wieder ab. Ich mache sowieso eine kleine Tour«, fuhr er fort, ehe sie Gelegenheit zu widersprechen fand. »Auf diese Weise sparst du das Benzin.«
»Also gut. Wenn du sicher bist. Ich bin sofort wieder da.«
Während er wartete, trat Gray in den Vorgarten hinaus. In dem Monat seit seiner Ankunft hatte er Stürme, Regenschauer und das strahlende Licht der irischen Sonne erlebt. Er hatte in Dorfpubs gesessen und dem Klatsch und Tratsch der Leute sowie traditioneller Musik gelauscht. Er war Wege entlanggewandert, auf denen sonst nur hin und wieder ein Bauer seine Kühe von einem Feld aufs andere trieb, und war die gewundenen Stufen von Burgruinen hinaufgeklettert, in denen das Echo von Krieg und Tod zu hören war. Er hatte Grabstätten besichtigt und am Rand hoch aufragender Klippen gestanden und auf die wogende See hinausgesehen.
Von allen Orten, die er gesehen hatte, erschien ihm jedoch keiner so schön wie der Garten vor Briannas Tür. Obgleich er sich nicht sicher war, ob es tatsächlich der Ort oder nicht
vielleicht eher die Frau war, auf die er jetzt wartete. So oder so, entschied er, seine Zeit hier würde sicher einer seiner befriedigendsten Abschnitte seines Lebens sein.
Er setzte Brianna vor dem ordentlichen kleinen Haus am Rand von Ennis ab, und dann unternahm er eine kurze Wanderung. Über eine Stunde lang kletterte er über die Felsen des Burren und brannte sich die beeindruckenden Bilder in seine Erinnerung. Die bloße Weite begeisterte ihn ebenso wie der Druidenaltar, der vor ihm bereits von zahllosen Touristen bewundert worden war.
Anschließend fuhr er ziellos in der Gegend herum und hielt an, wo es ihm gefiel — an einem Strand, auf dem außer einem kleinen Jungen und einem riesigen Hund niemand zu sehen war, an einem Feld, auf dem Ziegen grasten und der Wind durch die hohen Gräser fuhr, in einem kleinen Dorf, wo ihm beim Kauf eines Schokoriegels eine Frau mit krummen, arthritischen Fingern das Wechselgeld gab, ehe sie ihm ein Lächeln schenkte, das süß wie die Sonne war.
Dann fiel sein Blick auf die Ruine einer alten Abtei mit einem runden Turm, so daß er an den Straßenrand fuhr, um sie sich genauer anzusehen. Die Rundtürme Irlands faszinierten ihn, aber bisher hatte er sie überwiegend an der Ostküste entdeckt. Wo sie wohl als Wachtürme gedient hatten, als Schutz vor der Unzahl von Invasoren, die sich der Insel über die Irische See genähert hatten. Dieser Turm schien noch vollkommen unbeschadet zu sein, auch wenn er sich eigenartig schräg in den Himmel hob. Gray verbrachte einige Zeit damit, um ihn herumzugehen, ihn sich genau anzusehen und zu überlegen, wie er in seinem Buch wohl am besten Verwendung fand.
Außer der Ruine waren auch Gräber zu sehen, einige alt und einige neu. Es hatte ihn schon immer fasziniert, daß den verschiedenen Generationen im Tod ein so friedliches Miteinander gelang, was ihnen zu Lebzeiten kaum jemals möglich
war. Er selbst würde auf die Art der Wikinger aus dem Leben ziehen — ginge es nach ihm, so trüge man seinen Leichnam auf einem von Fackeln erleuchteten Schiff aufs Meer hinaus.
Aber obgleich er berufsbedingt ein regelrechter Fachmann für Todesfragen war, verbannte er normalerweise jeden Gedanken an die eigene Sterblichkeit aus seinem Hirn.
Fast alle Gräber, an denen er vorbeikam, waren mit Blumen geschmückt. Viele der Blumen waren von neblig beschlagenen Plastikhauben bedeckt, so daß man die Blüten nur als konturlose Farbkleckse sah, doch statt ihn zu amüsieren, rührte ihn diese Verehrung der Toten auf
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