Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tödlich ist die Nacht

Tödlich ist die Nacht

Titel: Tödlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Hoag
Vom Netzwerk:
zu verlassen und bei Fremden zu leben.
    Fremde wussten doch gar nicht, wie er war, was er gerne aß und gerne tat. Fremde wussten nicht, dass er trotz seines IQ von 168 noch ein Kind war und manchmal vor so dummen Dingen wie der Dunkelheit oder einem Albtraum Angst hatte. Woher sollten Fremde das auch wissen?
    Vielleicht waren es ja freundliche Menschen, und sie würden es gut meinen und sich bemühen – Madame Chen und Großvater Chen waren schließlich auch einmal Fremde gewesen, rief er sich ins Gedächtnis – , aber vielleicht waren sie auch ganz anders. Und egal, wie sie waren, gut oder schlecht, sie waren nicht seine Familie.
    Tyler konnte sich kaum an seine Mutter erinnern. Wenn er an sie dachte, fielen ihm der Klang ihrer Stimme, die Berührung ihrer Hand, der Geruch ihrer Haut ein. Was seine Erinnerungen an sie betraf, wusste er nicht, ob er sie sich nicht selbst ausgedacht hatte. Er hatte davon gelesen, dass so etwas passieren konnte, dass das Gehirn die Lücken füllte und die Kluft zwischen tatsächlichen Ereignissen und dem, was hätte geschehen können oder von dem sich jemand wünschte, dass es geschehen wäre, überbrückte.
    Tyler hatte viele Wünsche. Er wünschte, dass seine Mutter nicht gestorben wäre. Er wünschte, sie könnten alle zusammen in einem Haus leben – einem der Häuser, in denen die Familien im Fernsehen lebten, wie in den alten Serien wie Lassie – er und Jace und ihre Mutter. Und er wünschte, sie hätten einen Vater, aber den hatten sie nicht.
    Und jetzt wünschte er sich verzweifelt, dass Jace nicht in Schwierigkeiten steckte, dass er nicht wegging und vielleicht nie mehr wiederkam.
    Tyler kauerte sich zusammen, legte die Arme um seine Beine, drückte die Wange gegen seine Knie und hielt sich fest umschlungen. Er kniff die Augen zusammen, um die brennenden Tränen zurückzudrängen.
    Es würde nichts nützen, wenn er weinte, egal, wie sehr er es wollte. Er musste nachdenken. Er musste versuchen, so viele Informationen wie möglich zu sammeln, sie sortieren und darüber nachdenken, vielleicht fiel ihm dann ein, was zu tun war und wie er helfen konnte. Das war er seinem IQ von 168 schuldig.
    Aber auch wenn er das wusste, war er doch noch ein kleiner Junge, und er hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so viel Angst gehabt.

24
    Für eine Frau, die nicht viel größer als ein Kobold war, schien in Andi Kellys Magen mehr zu passen, als es nach den Gesetzen der Natur möglich sein konnte. Sie verschlang ihr Essen wie ein Wolf, und man musste befürchten, dass sie nach der Hand eines unachtsamen Kellners schnappen würde, wenn er versuchte, ihr den Teller wegzunehmen, bevor jeder Krümel darauf verputzt war.
    Parker sah ihr verwundert zu. L.A. war eine Stadt, in der keine Frau mit Lust zu essen verstand. Die Hälfte der Frauen, die er kannte, würden ins Morton's gehen, einen Endiviensalat mit einem Shrimp bestellen und nach dem Essen alles wieder auskotzen.
    Aber Andi Kelly passte auch sonst in keine Schublade. Parker kannte sie nicht wirklich gut, aber sie schien genau so zu sein, wie sie sich gab. Keine Entschuldigungen, keine Ausflüchte, keine Spielchen. Sie sagte, was sie sagen wollte, tat, was sie tun wollte, zog an, was sie anziehen wollte. Sie war wie eine frische Brise, die nach Zimt duftete – wie ihr Parfum, das Parker bei ihrem Begrüßungskuss gerochen hatte. Sie begrüßte ihn, als wäre er ein guter alter Freund, den sie erst vor zwei Tagen das letzte Mal gesehen hatte, setzte sich hin und fing an zu plaudern.
    Parker war zu nervös, um viel zu essen. Die Anspannung, die ihn während einer Ermittlung wie dieser – ein Fall, der sein Interesse weckte, ihn verwirrte und eine Herausforderung darstellte – stets erfasste, brachte ihn so auf Touren, dass er nicht mehr still sitzen, nicht mehr essen, nicht mehr schlafen konnte. Noch war es nicht so weit, aber er kannte die Zeichen. Er konnte sie spüren wie die Vorboten eines größeren Erdbebens.
    »Dieser Knabe, Caldrovics, sagt, er hätte einen Tipp zu deinem Mord erhalten«, erzählte ihm Kelly zwischen zwei Bissen von ihrem erstklassigen Angus-Steak.
    Parker nahm einen Schluck von seinem Cabernet. »Von wem?«
    Sie verdrehte die Augen. »Du machst Witze, oder? Diese kleine Teufelsbrut kriecht aus dem Bauch ihrer Mutter, bereit, ihre Zähne in deinen Hals zu schlagen, damit sie dir das Blut aussaugen kann, dann klettert sie über deinen alten, verrotteten Körper hinweg, um nach den Sternen zu greifen und

Weitere Kostenlose Bücher