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Tödlich ist die Nacht

Tödlich ist die Nacht

Titel: Tödlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Hoag
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Tyler hatte die nächsten Stunden damit verbracht, das Badezimmer mit Scheuerpulver zu schrubben. Und dann war er selbst kräftig geschrubbt worden.
    Es hatte Wochen gedauert, bis die Farbe herausgewachsen war. Die Kinder an seiner Schule waren zum größten Teil Chinesen. Sie hatten ihn die ganze Zeit über gehänselt, bis seine Haare endlich lang genug gewesen waren, um sie abzuschneiden. Nach ein paar Wochen sah er wieder wie die gelbe Ente aus.
    Wenn er jetzt nicht bemerkt werden wollte, streifte er ein verwaschenes schwarzes Sweatshirt mit einer Kapuze über. Es stammte von Jace und war wer weiß wie alt, und vielleicht hatte es vor Jace schon anderen Leuten gehört. Es war vom vielen Waschen ganz weich, und seine Farbe war so, wie Tyler dachte, dass Gespenster sie hatten, wie Nebel in der Dunkelheit. Die Ärmel waren so lang, dass sie ihm bis über die Fingerspitzen reichten, und die Kapuze konnte er sich tief in die Stirn ziehen, so dass nichts von seinem Gesicht zu sehen war.
    Unbemerkt zu bleiben war eine Fähigkeit, die Tyler schon früh geübt hatte. Jace wollte ihn immerzu vor allem beschützen, so als wäre er noch ein Baby oder etwas in der Art. Aber Tyler wollte alles wissen. Wissen war Macht. Wissen verringerte die Wahrscheinlichkeit, unangenehm überrascht zu werden. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste.
    Tyler war von alldem zutiefst überzeugt. Er war zwar nur ein Kind und zu klein, um durch körperliche Kraft Macht über seine Welt zu haben, aber er hatte einen IQ von 168 . Er hatte die ent sprechenden Tests im Internet gemacht. Die echten, nicht diesen nachgemachten Kinderkram. Seine Stärke war sein Hirn, und je mehr er lernen konnte – durch Bücher, durch Beobachtung oder Experimente – , desto stärker wurde er. Er würde vielleicht nie mals imstande sein, jemanden wie Chi herumzuschubsen, aber er würde ihn immer austricksen können.
    Er hatte die Kapuze weit heruntergezogen, als er die Tür der Besenkammer öffnete, die neben Madame Chens Büro lag, und sah, wie Chi mit einem Ohr an der Bürotür lauschte. Tyler hatte Chi nie gemocht. Er war böse und immer schlecht gelaunt. Großvater Chen sagte, dass Chi als Kind den Samen der Eifersucht verschluckt hatte und dessen Wurzeln nun mit jedem Teil von ihm verbunden waren und sich durch nichts wieder entfernen ließen.
    Jace war erst spät nach Hause gekommen. Schon wieder. Tyler hatte aus dem kleinen Fenster im Badezimmer Ausschau nach ihm gehalten, hatte gesehen, wie er in den Hof gefahren war und wie eine Statue neben dem Auto gestanden hatte, so als ob er zu entscheiden versuchte, was er als Nächstes tun sollte. Sobald er in Madame Chens Büro verschwunden war, hatte Tyler sich seinen Tarnpulli geschnappt und war auf Strümpfen die Treppe hinuntergeflitzt und wie eine kleine Maus den Flur entlanggehuscht, um zur Besenkammer zu gelangen.
    Er wusste, dass mit Jace etwas nicht stimmte, und er wusste, dass es schlimmer war als ein bloßer Sturz vom Fahrrad. Er hatte es sofort gespürt, als Jace letzten Abend mit ihm gesprochen hatte. Er war so nervös gewesen. Er hatte Tyler nicht in die Augen gesehen, als er ihm gesagt hatte, es sei ein Unfall gewesen, nichts weiter.
    Tyler hatte in dieser Hinsicht ein feines Gespür. Weil er viel Zeit damit zubrachte, andere Leute zu beobachten, ihnen zuzuhören, sie zu studieren, ohne dass sie das mitkriegten, hatte er ein geradezu unheimliches Gespür dafür entwickelt, ob ein Mensch die Wahrheit sagte oder nicht. Er wusste, dass Jace gelogen hatte, aber er hatte zu viel Angst gehabt, um ihn zur Rede zu stellen.
    Großvater Chen sagte, Lügen könnten gefährlicher sein als Vipern. Tyler glaubte das unbesehen.
    Aber jetzt, da er in der Besenkammer kauerte, die nur eine dünne Wand von Madame Chens Büro trennte, fragte er sich, ob die Wahrheit nicht ebenso schlimm war.
    Die Polizei glaubte, Jace hätte jemanden umgebracht! Tylers Augen füllten sich mit Tränen, während die Gedanken durch seinen Kopf rasten und er sich all das vorstellte, was Jace erzählte, dass er ins Gefängnis müsste und das Jugendamt ihn – Tyler – in eine Pflegefamilie stecken würde.
    Tyler wollte sein Zuhause nicht verlassen und auch nicht die Schule, in die ihn Madame Chen schickte, eine kleine Privatschule, in der es keiner seltsam fand, dass eine Chinesin zu den Elternabenden für ein weißes Kind erschien. Er bekam Bauchschmerzen, wenn er daran dachte, dass man ihn zwingen könnte, Madame Chen und Großvater Chen

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