Tödliche Absicht
Wildlederjacke. Alle Farben passten zusammen, alle Materialien waren steif und neu – die erste falsche Note, die Reacher bei ihm wahrnahm. Als ob er sich gefragt hätte: Was würde ein Vizepräsident anziehen?, statt einfach nach den nächstbesten Klamotten in seinem Kleiderschrank zu greifen. Er nickte allen Anwesenden ernst zu und trat an den Tisch. Sprach mit niemandem. Er wirkte verlegen. Das Schweigen dauerte an. Es wurde allmählich peinlich.
»Wie geht’s Ihrer Frau, Sir?«, fragte der Scharfschütze.
Eine diplomatische Frage, dachte Reacher. Über die Gefühle eines anderen Menschen zu sprechen war immer einfacher, als über die eigenen zu reden. Sie war kollegial, denn sie besagte : Wir sind hier alle Insider, deshalb wollen wir über jemanden reden, der das nicht ist. Und: Jetzt haben Sie Gelegenheit, uns dafür zu danken, dass wir ihr das Leben gerettet haben – und Ihnen auch.
»Sie ist sehr erschüttert«, sagte Armstrong. »Das war eine schreckliche Sache. Sie möchte, dass Sie wissen, wie Leid ihr alles tut. Tatsächlich hat sie mir die Hölle heiß gemacht. Sie meint, dass ich kein Recht habe, Sie und Ihre Kollegen in Gefahr zu bringen.«
Eine perfekte politische Antwort, fand Reacher. Sie ließ nur eine Erwiderung zu: Wir tun nur unsere Pflicht, Sir.
»Das ist unser Job, Sir«, erwiderte Stuyvesant. »Wären Sie’s nicht, wär’s jemand anders.«
»Danke«, sagte Armstrong. »Für Ihre Liebenswürdigkeit und dass Sie heute so Hervorragendes geleistet haben. Dafür danken wir Ihnen beide. Von ganzem Herzen. Ich bin kein abergläubischer Mensch, aber ich habe irgendwie das Gefühl, Ihnen etwas schuldig zu sein. Als laste eine Verpflichtung auf mir, von der ich mich nur befreien kann, indem ich etwas für Sie tue. Zögern Sie also nicht, mich um etwas zu bitten. Es kann offiziell oder inoffiziell sein, alles ist erlaubt. Ich bin lebenslänglich Ihr Freund.«
Niemand reagierte.
»Erzählen Sie mir von Crosetti«, bat Armstrong. »Hatte er Familie?«
Der Scharfschütze nickte. »Er hinterlässt eine Frau und einen Sohn«, antwortete er. »Der Junge ist acht, glaube ich.«
Armstrong sah weg. »Das tut mir Leid.«
Schweigen im Raum.
»Kann ich irgendwas für sie tun?«, fragte Armstrong.
»Wir kümmern uns um sie«, sagte Stuyvesant.
»Froelich hinterlässt ihre Eltern in Wyoming«, fuhr Armstrong fort. »Sonst niemanden. Sie hatte keine Geschwister. Ich habe heute Nachmittag mit ihren Eltern telefoniert. Nachdem Sie bei mir im Weißen Haus gewesen sind. Ich hatte das Bedürfnis, ihnen mein Beileid persönlich auszusprechen. Und ich wollte meine Ankündigung mit ihnen besprechen, bevor ich vor die Fernsehkameras trete. Ich wollte nichts ohne ihr Einverständnis sagen, wissen Sie, nur um einen Köder auszulegen. Aber ihnen hat der Vorschlag gefallen, am Sonntag einen Trauergottesdienst abzuhalten. So sehr, dass sie dazu einladen wollen. Der Gottesdienst findet also wirklich statt.«
Schweigen. Armstrong suchte sich eine Stelle an der Wand aus und starrte sie an.
»Ich will daran teilnehmen«, sagte er. »Tatsächlich werde ich daran teilnehmen.«
»Das kann ich nicht zulassen«, bemerkte Stuyvesant.
Armstrong sagte nichts.
»Ich meine, ich rate Ihnen davon ab«, sagte Stuyvesant.
»Sie ist meinetwegen ermordet worden. Ich will an diesem Gottesdienst teilnehmen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich möchte dort auch ein paar Worte sprechen und noch mal mit ihren Angehörigen reden.«
»Die würden sich bestimmt sehr geehrt fühlen, aber ich muss an den Sicherheitsaspekt denken.«
»Ich respektiere natürlich Ihre Einschätzung der Lage«, sagte Armstrong. »Aber mein Entschluss steht fest. Ich besuche den Gottesdienst notfalls allein. Mir wär’s sogar lieber, wenn ich das könnte.«
»Das ist unmöglich«, sagte Stuyvesant.
Armstrong nickte. »Dann wählen Sie also drei Agenten aus, die mich begleiten wollen. Aber nur drei. Wir dürfen dort keinen Zirkus veranstalten. Wir kommen und verschwinden rasch, inoffiziell.«
»Sie haben Ihren Besuch im Fernsehen angekündigt.«
»Mein Entschluss steht fest«, wiederholte Armstrong. »Nur darf daraus kein Zirkus werden. Also keine Presse, kein Fernsehen. Nur wir.«
Stuyvesant schwieg.
»Ich nehme an dem Gottesdienst teil«, beharrte Armstrong. »Sie ist meinetwegen gestorben.«
»Sie kannte die Risiken«, sagte Stuyvesant »Wir alle kennen sie. Wir sind hier, weil wir uns freiwillig dafür entschieden haben.«
Armstrong
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