Tödliche Absicht
nickte. »Ich habe mit dem FBI-Direktor gesprochen. Er hat mir gesagt, dass den Tätern die Flucht gelungen ist.«
»Nur eine Frage der Zeit«, meinte Stuyvesant.
»Meine Tochter befindet sich in der Antarktis«, sagte Armstrong. »Dort ist jetzt bald Hochsommer. Die Temperatur steigt bis auf minus fünfundzwanzig Grad, in ein, zwei Wochen vielleicht sogar auf minus zwanzig. Wir haben vorhin über das Satellitentelefon miteinander gesprochen. Sie sagt, es komme ihr unglaublich warm vor. Darüber haben wir auch schon letztes Jahr gesprochen. Ich habe diese Äußerung für eine Art Metapher gehalten. Sie wissen schon, alles ist relativ, nichts ist so schlimm, man kann sich an alles gewöhnen. Aber jetzt bin ich im Zweifel. Ich glaube nicht, dass ich jemals über den heutigen Tag hinwegkommen werde. Ich lebe nur noch, weil ein anderer Mensch tot ist.«
Schweigen.
»Sie hat gewusst, was sie tat«, entgegnete Stuyvesant. »Wir sind alle Freiwillige.«
»Sie war wundervoll, nicht wahr?«
»Lassen Sie mich wissen, wann Sie ihren Nachfolger kennen lernen möchten.«
»Noch nicht«, erklärte Armstrong. »Vielleicht morgen. Und fragen Sie wegen Sonntag nach. Drei Freiwillige. Freunde von Froelich, die ohnehin gern an dem Trauergottesdienst teilnehmen würden.«
Stuyvesant schwieg. Dann zuckte er mit den Schultern.
»Okay«, sagte er.
Armstrong nickte. »Dafür danke ich Ihnen. Und ich danke Ihnen für heute. Ich möchte Ihnen allen danken. Auch im Namen meiner Frau. Das war’s eigentlich, was ich hier sagen wollte.«
Seine Leibwächter nahmen das Stichwort auf und begleiteten ihn zur Tür. Drei Minuten später kam ein Funkspruch aus seiner Limousine. Er war sicher und in Richtung Nordwesten nach Georgetown unterwegs.
»Scheiße«, schimpfte Stuyvesant. »Jetzt wird der Sonntag ein gottverdammter Albtraum – und das zu allem anderen.«
Außer Neagley achtete niemand auf Reacher. Sie verließen gemeinsam den Konferenzraum und trafen Swain im Empfangsbereich an. Er hatte bereits seinen Mantel an.
»Ich fahre nach Hause«, verkündete er.
»In einer Stunde«, sagte Reacher. »Erst zeigen Sie uns die Akte Armstrong.«
16
Armstrongs Biografie bestand aus insgesamt zwölf Bänden. Elf enthielten massenhaft Rohdaten wie eingeklebte Zeitungsausschnitte, Interviews, protokollierte Aussagen und weiteren Papierkram der ersten Generation. Der zwölfte Band war eine umfangreiche Zusammenfassung der ersten elf Bände. Er war dick wie eine mittelalterliche Bibel und las sich wie ein Buch. Er erzählte Brook Armstrongs gesamtes Leben, und hinter jeder wichtigen Tatsache stand in Klammern eine Zahl. Auf einer Skala von eins bis zehn gab diese Zahl an, wie solide die jeweilige Tatsache belegt war. In den meisten Klammern stand eine Zehn.
Die Story begann auf Seite eins mit Armstrongs Eltern. Seine Mutter war in Oregon aufgewachsen, hatte im Bundesstaat Washington studiert und war nach Oregon zurückgekehrt, um dort als Apothekerin zu arbeiten. Auch ihre Eltern und Geschwister wurden kurz erwähnt, ihr Bildungsweg vom Kindergarten bis zum Abschluss ihres Pharmaziestudiums penibel genau dokumentiert. Ihre Arbeitgeber waren der Reihe nach aufgeführt, und die Eröffnung ihrer eigenen Apotheke nahm drei volle Seiten ein. Die Apotheke gehörte ihr noch immer, war jetzt jedoch verpachtet. Die alte Mrs. Armstrong befand sich im Ruhestand, aber sie hatte wegen eines Krebsleidens vermutlich nicht mehr lange zu leben.
Auch der Werdegang von Armstrongs Vater wurde detailliert geschildert. Was seine Militärdienstzeit betraf, gab es ein Eintrittsdatum und ein Datum, an dem er aus medizinischen Gründen entlassen worden war, aber weitere Einzelheiten fehlten. Er war ein gebürtiger Oregoner, der bei seiner Rückkehr ins Zivilleben die Apothekerin heiratete. Sie zogen in eine Kleinstadt im Südwesten Oregons, wo er mit geerbtem Geld ein Sägewerk übernahm. Das junge Ehepaar bekam bald eine Tochter, und Brook Armstrong wurde zwei Jahre später geboren. Die Firma seines Vaters gedieh und brachte es auf ansehnliche Größe. Ihre weitere Entwicklung wurde über mehrere Seiten hinweg beschrieben. Sie ermöglichte den Armstrongs einen angenehmen provinziellen Lebensstil.
Reacher überblätterte die gut einen Zentimeter dicke Biografie der Schwester und widmete sich der Lektüre von Brooks Bildungsweg. Er begann wie bei allen anderen im Kindergarten. Der Bericht enthielt zahlreiche Details, weshalb Reacher sie übersprang. Armstrong
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