Tödliche Absicht
es offenbar gefallen hat, dass ihm widersprochen wurde, noch ein wenig mehr erzählt.«
»Und?«
»Er lebt allein. Witwer. Die beiden Cop-ähnlichen Kerle haben es irgendwie geschafft, sich von ihm nach Hause einladen zu lassen. Sie fragten ihn, was er täte, um seine Angehörigen zu schützen. Was würden Sie tun ? Wie weit würden Sie gehen? Anfangs waren das nur rhetorische Fragen, aber dann sind sie sehr schnell zur Sache gekommen. Sie erklärten ihm, er müsse seinen Daumen oder seine Enkelinnen hergeben. Er habe die Wahl. Sie hielten ihn fest und trennten ihm den Daumen ab. Dann nahmen sie ein Familienfoto und sein Adressbuch mit. Sagten ihm, sie wüssten jetzt, wie seine Enkelinnen aussehen und wo sie wohnen. Drohten ihm, die Mädchen umzubringen, wenn er nicht dichthalte. Und das hat er ihnen natürlich geglaubt. Sie nahmen aus seiner Küche eine Kühltasche mit Eiswürfeln mit, um den Daumen zu transportieren. Dann sind sie verschwunden, und er hat sich ins Auto gesetzt und ist selbst ins Krankenhaus gefahren.«
Schweigen im Raum.
»Beschreibung der Täter?«, fragte Stuyvesant.
Bannon schüttelte den Kopf. »Zu verängstigt«, sagte er. »Meine Leute haben davon gesprochen, die ganze Familie ins Zeugenschutzprogramm aufzunehmen. Aber er wird nicht anbeißen. Das war alles, was wir aus ihm herausbekommen werden, fürchte ich.«
»Spurensuche in seinem Haus?«
»Andretti hat es gründlich geputzt. Sie haben ihn dazu gezwungen. Ihn dabei beaufsichtigt.«
»Was ist mit der Bar? Hat ihn dort jemand im Gespräch mit den Männern beobachtet?«
»Wir fragen natürlich nach. Aber das Ganze liegt fast sechs Wochen zurück. Erwarten Sie sich nicht zu viel davon.«
Wieder Schweigen.
»Reacher?«, sagte Neagley.
»Was?«
»Was denkst du?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Ich denke an Dostojewski«, antwortete er. »Ich habe gestern ein Exemplar von Schuld und Sühne gefunden, das ich Joe zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich erinnere mich, dass ich ihm eigentlich Die Brüder Karamasow schicken wollte, dann aber davon abgekommen bin. Hast du diesen Roman mal gelesen?«
Neagley schüttelte den Kopf.
»Darin geht’s auch um die Verbrechen der Türken in Bulgarien«, erklärte er. »Morde, Vergewaltigungen und Plünderungen waren an der Tagesordnung. Sie haben morgens Gefangene gehängt, die sie in der letzten Nacht ihres Lebens mit den Ohren an einen Zaun genagelt hatten. Sie haben Babys in die Luft geworfen und mit Bajonetten aufgespießt. Sie haben behauptet, das Beste daran sei, es vor den Augen der Mütter zu tun. Das alles hat Iwan Karamasow gründlich desillusioniert. Kein Tier könnte je so grausam wie ein Mensch sein, so kunstvoll, so künstlerisch grausam, hat er gesagt. Dann hab ich daran gedacht, wie diese Männer Andretti gezwungen haben, unter ihrer Aufsicht sein Haus zu putzen. Ich nehme an, dass er nur einhändig arbeiten konnte. Er muss schrecklich gelitten haben. Dostojewski hat seine Gefühle in einem Roman ausgedrückt. Ich besitze nicht sein Talent, deshalb will ich diese Verbrecher aufspüren und ihnen auf meine Weise begreiflich machen, dass sie sich auf einem falschen Weg befinden.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie viel lesen«, sagte Bannon.
»Es geht so«, sagte Reacher.
»Und ich möchte Sie vor Selbstjustiz warnen.«
»Das ist ein großes Wort für einen Special Agent.«
»Ich will jedenfalls keine Aktion auf eigene Faust.«
Reacher nickte. »Verstanden.«
Bannon lächelte. »Haben Sie das Rätsel schon gelöst?«
»Welches Rätsel?«
»Wir vermuten, dass dieses Vaime Mk2 am Dienstag in Minnesota und gestern in North Dakota war. Und heute ist es hier in Washington. Sie haben es nicht im Flugzeug mitgenommen, das steht jedenfalls fest; denn eine auf einem Linienflug mitgeführte Langfeuerwaffe hinterlässt eine Papierspur von einer Meile Länge. Und mit dem Auto können sie in der kurzen ihnen zur Verfügung stehenden Zeit nicht gefahren sein. Also muss einer der beiden Männer mit der Heckler & Koch bewaffnet allein in Bismarck gewesen sein, während der andere mit dem Vaime von Minnesota hierher gefahren ist. Doch wenn beide Männer in Bismarck waren, müssen sie zwei Vaimes besitzen – eines dort, eines hier versteckt. Und falls sie sich dort aufgehalten hatten, aber nur ein Vaime besitzen, muss jemand es für sie von Minnesota nach Washington gebracht haben, was bedeuten würde, dass wir’s nicht mit zwei, sondern drei Tätern zu tun haben.«
Niemand
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