Tödliche Absicht
Nacht Kaffee getrunken.
»Okay, Armstrongs Vater?«, sagte sie, als stelle sie diese Frage an seiner Stelle. »Er wurde gegen Ende des Koreakriegs eingezogen. Ist niemals an die Front gekommen. Aber er hat die Officerausbildung gemacht, war dann Lieutenant und wurde einer Infanteriekompanie zugeteilt. Stationiert waren sie in Alabama, in einem Ausbildungslager, das längst nicht mehr existiert. Dort sollten sie Einsatzbereitschaft demonstrieren, von der jeder wusste, dass sie praktisch vorbei war. Und du weißt, wie so was funktioniert hat, stimmt’s?«
Reacher nickte verschlafen. Nahm seinen Kaffee mit kleinen Schlucken zu sich.
»Irgendein dämlicher Hauptmann veranstaltet endlos Wettbewerbe«, sagte er. »Punkte hierfür, Punkte dafür, jede Menge Strafpunkte. Am Monatsende erhält die zweite Kompanie eine Flagge, die sie in ihrer Unterkunft aufstellen darf, weil sie die erste Kompanie in den Hintern getreten hat.«
»Und Armstrong senior hat meist gewonnen«, fuhr Neagley fort. »Er hatte seinen Laden echt im Griff, aber zugleich auch ein Problem: seinen unberechenbaren Jähzorn. Hat jemand Scheiße gebaut und Punkte eingebüßt, konnte er ausrasten. Das ist mehrmals passiert. Nicht bloß das übliche Gebrüll eines Vorgesetzten. In seiner Personalakte ist die Rede von unbeherrschbaren Wutanfällen. Er ist zu weit gegangen, als habe er sich nicht mehr unter Kontrolle.«
»Und?«
»Seine Vorgesetzten haben ihm das zwei Mal nachgesehen. Er war nicht ständig unbeherrscht, nur hin und wieder. Aber beim dritten Mal hat er einen Untergebenen gefährlich verletzt – und dafür ist er rausgeflogen. Sie haben den wahren Grund vertuscht und ihn aus psychologischen Gründen entlassen, ihm aber eine Frontneurose bestätigt, obwohl er nie im Einsatz war.«
Reacher verzog das Gesicht. »Er muss Freunde gehabt haben, und du anscheinend auch, sonst hättest du das nicht alles herausfinden können.«
»Ich hab die ganze Nacht telefoniert. Stuyvesant wird der Schlag treffen, wenn er die Motelrechnung sieht.«
»Wie viele Betroffene?«
»Mein erster Gedanke, aber die können wir vergessen. Insgesamt drei, bei jedem Vorfall einer. Einer ist in Vietnam gefallen, einer vor zehn Jahren in Palm Springs gestorben. Der dritte Mann ist über siebzig und lebt in Florida.«
»Pech«, meinte Reacher.
»Aber es erklärt, weshalb seine Dienstzeit im Wahlkampf ausgespart wurde.«
Reacher nickte. Nahm einen Schluck Kaffee. »Könnte Armstrong den Jähzorn seines Vaters geerbt haben? Froelich hat gesagt, sie habe ihn zornig erlebt.«
»Das war mein zweiter Gedanke«, erklärte Neagley. »Vorstellbar wär’s jedenfalls. Unter der Oberfläche war etwas davon zu spüren, als er darauf bestanden hat, an dem Trauergottesdienst für sie teilzunehmen, nicht? Aber ich vermute, dass sich das längst bemerkbar gemacht hätte. Der Mann hat praktisch sein ganzes Erwachsenenleben für irgendwelche politischen Ämter kandidiert. Und alles hat erst mit dem Wahlkampf in diesem Sommer begonnen. Darüber waren wir uns bereits einig.«
Reacher nickte vage. »Mit dem Wahlkampf«, wiederholte er. Er saß mit dem Kaffeebecher in der Hand da, starrte die Wand vor sich an.
»Was ist?«, fragte Neagley.
Er gab keine Antwort, stand auf und ging ans Fenster. Zog die Jalousie etwas hoch und blickte nach draußen.
»Was hat Armstrong im Wahlkampf gemacht ?«, fragte er.
»Alles Mögliche.«
»Wie viele Abgeordnete stellt New Mexico?«
»Keine Ahnung«, antwortete Neagley.
»Drei, glaube ich. Weißt du ihre Namen?«
»Nein.«
»Würdest du einen von ihnen auf der Straße erkennen?«
»Nein.«
»Oklahoma?«
»Keine Ahnung. Fünf?«
»Sechs, glaube ich. Weißt du ihre Namen?«
»Einer von ihnen ist ein Arschloch, das weiß ich. Kann mich nicht an seinen Namen erinnern.«
»Senatoren aus Tennessee?«
»Worauf willst du hinaus?«
Reacher starrte aus dem Fenster.
»Wir leiden an der Hauptstadtkrankheit«, erklärte er. »Sogar wir haben uns damit angesteckt. Wir betrachten diese Sache nicht wie die Leute da draußen im Land. Für die sind alle diese Politiker absolute Niemands. Das hast du selbst gesagt. Du interessierst dich nach eigener Aussage für Politik, aber du könntest nicht alle hundert Senatoren aufzählen. Und die meisten Leute interessieren sich überhaupt nicht für Politik. Die würden den Juniorsenator eines anderen Bundesstaats nicht erkennen, wenn er angerannt käme und sie in den Hintern bisse. Oder die Juniorsenatorin, wie
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