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Tödliche Absicht

Tödliche Absicht

Titel: Tödliche Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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war, saß auf seinem Hocker. Er tat nichts. Sie ließ das Video so lange vorlaufen, bis er aufstand. Er drückte auf mehrere Knöpfe und ging aus dem Bild. Dreißig Sekunden lang passierte gar nichts. Dann tauchte am äußersten rechten Bildrand ein Arm auf. Ein linker Arm in einem weichen Ärmel. Vielleicht in einem Tweedmantel. Die aus dem Ärmel ragende Hand steckte in einem Lederhandschuh. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt sie einen großen Umschlag. Er wurde durch das halb geschlossene Schiebefenster geschoben und fiel auf die Ablage. Dann verschwand der Arm.
    »Er hat von der Kamera gewusst«, sagte Froelich.
    »Ganz klar«, bestätigte Neagley. »Er war einen Meter von dem Wachhäuschen entfernt, hat den Arm weit ausgestreckt.«
    »Aber hat er auch von der anderen Kamera gewusst?«, fragte Reacher.
    Froelich warf die erste Kassette aus und schob die zweite ein. Spulte sie fünfunddreißig Minuten zurück. Drückte den Abspielknopf. Diesmal konnte man die Einfahrt sehen. Die Bildqualität war schlecht. Im Freien angebrachte Scheinwerfer erzeugten helle Flecken, und der Kontrast zu unbeleuchteten Stellen war stark. Die Schatten verschwammen. Der Blickwinkel war steil und eng. Der obere Bildrand schnitt die Ausfahrt zur Straße ab. Der untere Rand endete schätzungsweise zwei Meter vor dem Glaskasten des Wachmanns. Aber die Aufnahmebreite war gut. Sogar sehr gut. Beide Wände der Einfahrt waren deutlich zu sehen. Niemand konnte sich dem Wachhäuschen nähern, ohne ins Blickfeld dieser Überwachungskamera zu geraten.
    Das Video lief. Nichts passierte. Sie beobachteten den Zeitzähler, bis er zwanzig Sekunden vor dem Augenblick anzeigte, in dem der Arm erschienen war. Dann sahen sie oben an der Einfahrt eine Gestalt. Eindeutig ein Mann. Die Schultern und der Gang waren unverkennbar. Er trug einen dicken Tweedmantel, vielleicht grau oder dunkelbraun. Dunkle Hose, schwere Schuhe. Ein dicker Schal um den Hals und ein Hut auf dem Kopf. Ein dunkler, breitkrempiger Hut, der tief in die Stirn gezogen war. Der Mann hielt sein Kinn an die Brust gedrückt. So erfasste die Überwachungskamera auf seinem gesamten Weg die Einfahrt entlang nur den Kopfteil des Huts.
    »Er hat auch von der zweiten Kamera gewusst«, stellte Reacher fest.
    Das Band lief weiter. Der Mann ging schnell und zielbewusst – er beeilte sich nicht übermäßig, rannte nicht, hatte seine Bewegungen stets unter Kontrolle. Den braunen Umschlag hielt er in der rechten Hand flach an seinen Oberschenkel gedrückt. Er kam am unteren Bildrand außer Sicht und tauchte drei Sekunden später wieder auf. Ohne den Umschlag. Er ging ebenso zielbewusst wie zuvor die Einfahrt entlang zurück und verschwand am oberen Bildrand.
    Froelich hielt das Video an. »Personenbeschreibung?«
    »Unmöglich«, sagte Neagley. »Männlich, eher klein, stämmig. Vermutlich Rechtshänder. Keine erkennbare Gehbehinderung. Mehr lässt sich nicht sagen. Wir haben praktisch nichts gesehen.«
    »Vielleicht nicht wirklich stämmig«, warf Reacher ein. »Der Blickwinkel verkürzt alles ein wenig.«
    »Er hat sich ausgekannt«, sagte Froelich, »hat von den Kameras und den Pinkelpausen des Wachmanns gewusst. Also ist er einer von unseren Leuten.«
    »Nicht unbedingt«, widersprach Reacher. »Er könnte ein Außenstehender sein, der Sie ausspioniert hat. Die auf die Einfahrt gerichtete Kamera erkennt man, wenn man nach ihr sucht. Und dass eine zweite Kamera den Innenbereich überwacht, kann sich auch jeder denken. Außerdem wäre er nach ein paar nächtlichen Beobachtungen über die Pinkelpausen informiert gewesen. Aber egal, ob er ein Insider oder Außenstehender ist – wir müssen vorhin an ihm vorbeigefahren sein, als wir uns auf den Weg zu den Raumpflegern gemacht haben. Denn selbst wenn er ein Insider ist, muss er den Wachmann beobachten, um herauszufinden, wann er auf die Toilette geht. Er muss von der gegenüberliegenden Straßenseite aus ein paar Stunden die Einfahrt beobachtet haben. Vielleicht mit einem Fernglas.«
    Im Büro wurde es still.
    »Ich habe niemanden gesehen«, sagte Froelich.
    »Ich auch nicht«, stimmte Neagley ihr zu.
    »Ich hatte die Augen geschlossen«, warf Reacher ein.
    »Wir hätten ihn nicht zu sehen gekriegt«, sagte Froelich. »Sobald ein Fahrzeug die Rampe heraufkommt, geht er natürlich in Deckung.«
    »Vermutlich«, pflichtete Reacher ihr bei. »Aber wir waren ihm für kurze Zeit ganz nahe.«
    »Scheiße«, sagte Froelich.
    »Ja, Scheiße«, bestätigte

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