Tödliche Absicht
Neagley.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Froelich.
»Nichts«, entgegnete Reacher. »Wir können nichts tun. Das alles war vor über vierzig Minuten. Ist er ein Insider, liegt er vielleicht schon im Bett. Wenn nicht, befindet er sich jetzt auf der I-95 oder irgendeiner anderen Stadtautobahn – mindestens dreißig Meilen weit entfernt. Wir können nicht die State Troopers in vier Bundesstaaten alarmieren und sie nach einem rechtshändigen Autofahrer ohne sichtbare Gehbehinderung fahnden lassen, weitere Einzelheiten leider unbekannt.«
»Sie könnten nach Hut und Mantel auf dem Rücksitz oder im Kofferraum suchen.«
»Es ist November, Froelich. Jeder hat warme Sachen im Wagen.«
»Was machen wir jetzt?«, wiederholte sie.
»Aufs Beste hoffen, fürs Schlimmste planen. Sie konzentrieren sich auf Armstrong – nur für den Fall, dass diese Sache ernst gemeint ist. Lassen Sie ihn abschirmen. Wie Stuyvesant ganz richtig gesagt hat, muss nicht jede Attentatsdrohung gleich zum Erfolg führen.«
»Wie sieht sein Terminplan aus?«, fragte Neagley.
»Heute Abend nach Hause, morgen ins Kapitol«, antwortete Froelich.
»Dann ist vorläufig alles in Ordnung. Im Kapitol waren Ihre Leute sehr gut. Wenn Reacher und ich dort nicht an ihn herankonnten, gelingt das auch keinem anderen. Immer vorausgesetzt, dass ein anderer überhaupt an ihn herankommen will und Sie nicht nur so aus Spaß in Panik versetzt.«
»Glauben Sie?«
»Halten Sie sich an Stuyvesants Rezept: Tief durchatmen und nicht nachgeben. Seien Sie zuversichtlich.«
»Hab ein ungutes Gefühl. Ich will wissen, wer dieser Kerl ist.«
»Das kriegen wir früher oder später raus. Solange Sie nicht angreifen können, müssen Sie in der Defensive bleiben.«
»Sie hat Recht«, sagte Reacher. »Konzentrieren Sie sich auf Armstrong – für alle Fälle.«
Froelich nickte vage, nahm die Kassette aus dem Recorder und schob wieder die erste ein. Ließ das Video erneut laufen und starrte auf den Bildschirm, bis der Wachmann von der Toilette zurückkam, den Umschlag bemerkte, danach griff und mit ihm von der Bildfläche verschwand.
»Hab ein ungutes Gefühl«, sagte sie noch mal.
Eine Stunde später erschienen zwei FBI-Spurensicherer und fotografierten das Blatt Papier auf dem Konferenztisch. Zum Größenvergleich legten sie ein Lineal daneben und steckten anschließend Blatt und Umschlag mit einer sterilen Kunststoffpinzette in getrennte Asservatenbeutel. Froelich unterschrieb einen Vordruck, damit die Beweiskette lückenlos blieb. Die Spurensicherer nahmen Blatt und Umschlag zur Untersuchung mit. Danach setzte Froelich sich ans Telefon und verfolgte zwanzig Minuten lang Armstrongs Weg von der Landung mit dem Hubschrauber des Marine Corps auf der Andrews Air Force Base bis zu ihm nach Hause.
»Okay, jetzt kann nichts mehr passieren«, sagte sie. »Vorerst.«
Neagley reckte sich gähnend. »Dann sollten Sie sich eine Pause gönnen und sich auf eine schwierige Woche vorbereiten.«
»Ich komme mir dumm vor«, sagte Froelich. »Weil ich nicht weiß, ob es Spiel oder Realität ist.«
»Sie geben zu viel auf Gefühle«, meinte Neagley.
Froelich sah zur Decke. »Was würde Joe jetzt tun?«
Reacher überlegte einen Augenblick, dann grinste er. »Vermutlich losziehen und sich einen neuen Anzug kaufen.«
»Nein, im Ernst.«
»Er würde kurz die Augen schließen und den Fall wie ein Schachspiel analysieren. Wissen Sie, dass er Karl Marx gelesen hat? Er erzählte mir einmal, dass der alte Marx den Trick beherrscht hat, alles auf eine einzige Frage zu reduzieren, die ›Wer profitiert davon?‹ lautete.«
»Und?«
»Nehmen wir mal an, diese Sache ist tatsächlich das Werk eines Insiders. Karl Marx würde sagen: ›Okay, der Insider will davon profitieren.‹ Joe würde fragen: ›Okay, wie will er davon profitieren?‹«
»Indem er mich vor Stuyvesant blamiert.«
»Und so dafür sorgt, dass Sie degradiert, entlassen oder sonst was werden, weil ihm das irgendwie Befriedigung verschafft. Das wäre sein Ziel – sein einziges Ziel, und Armstrong würde nicht ernstlich in Gefahr schweben. Das ist ein wichtiger Punkt. Und dann würde Joe sagen: ›Gut, nehmen wir mal an, der Typ wäre kein Insider, sondern ein Außenstehender. Wie will er davon profitieren?‹«
»Indem er Armstrong ermordet.«
»Was ihm auf andere Weise Befriedigung verschafft. Deshalb würde Joe sagen, dass Sie vorgehen müssen, als sei der Kerl ein Außenstehender: sehr ruhig und ohne in Panik zu
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