Tödliche Absicht
Kühlschranktür zu sehen. Es roch nach Essen. Eine weitere Tür führte ins Wohnzimmer, in dem zwei schweigende, sichtlich verängstigte Frauen saßen. Sie trugen Sonntagskleider, in denen sie ganz anders als in ihrer Arbeitsmontur aussahen.
»Wir brauchen Ihre Namen«, sagte Neagley.
Ihr Tonfall war eine Mischung aus verbindlicher Freundlichkeit und kühler Distanz. Reacher musste ein Lächeln unterdrücken. Das war Neagleys typische Art und eine ihrer Stärken.
»Julio«, antwortete der Mann.
»Anita«, sagte die erste Frau. Da sie rasch zu dem Mann hinübersah, bevor sie antwortete, nahm Reacher an, dass sie seine Frau war.
»Maria«, sagte die zweite Frau. »Ich bin Anitas Schwester.«
Im Wohnzimmer standen ein kleines Sofa und zwei Sessel. Anita und Maria rückten zusammen, damit Julio bei ihnen auf dem Sofa Platz hatte. Reacher fasste das als Einladung auf und ließ sich in einem der Sessel nieder. Neagley setzte sich in den anderen.
»Wir glauben, dass ihr den Brief auf den Schreibtisch gelegt habt, Leute«, sagte Neagley.
Keine Antwort. Keinerlei Reaktion. Nur ausdruckslose Gesichter.
»Habt ihr’s getan?«, fragte Neagley.
Keine Antwort.
»Sind die Kinder schon im Bett?«, wollte Reacher wissen.
»Sie sind nicht da«, entgegnete Anita.
»Sind das Ihre oder Marias Kinder?«
»Meine.«
»Jungen oder Mädchen?«
»Zwei Mädchen.«
»Wo sind sie jetzt?«
Sie zögerte. »Bei Verwandten.«
»Warum?«
»Weil wir nachts arbeiten.«
»Nicht mehr lange«, meinte Neagley. »Sie werden bald überhaupt nicht mehr arbeiten, wenn Sie nicht bald auspacken.«
Keine Antwort.
»Keine Krankenversicherung, keine Sozialleistungen mehr.«
Keine Antwort.
»Vielleicht müssen Sie sogar ins Gefängnis.«
Schweigen.
»Was passieren soll, passiert eben«, sagte Julio.
»Hat jemand Sie aufgefordert, den Brief dort hinzulegen? Jemand, den Sie aus dem Dienst kennen?«
Keine Reaktion.
»Jemand, den Sie außerhalb des Dienstes kennen?«
»Wir haben nichts mit irgendeinem Brief gemacht.«
»Was haben Sie also gemacht?«, fragte Reacher.
»Wir haben geputzt. Dafür werden wir bezahlt.«
»Sie waren auffällig lange in Stuyvesants Büro.«
Julio sah zu seiner Frau, als finde er diese Aussage verwirrend.
»Wir haben das Video gesehen«, erklärte Reacher.
»Wir wissen von den Kameras«, sagte Julio.
»Sie arbeiten jede Nacht nach demselben Plan.«
»Das müssen wir.«
»Und Sie bleiben jede Nacht so lange drin.«
Julio zuckte mit den Schultern. »Ich denke schon.«
»Machen Sie dort eine Pause?«
»Nein, wir putzen.«
»Jede Nacht nach demselben Plan.«
»Ja. Außer jemand hat Kaffee verschüttet oder einen Haufen Abfall hinterlassen oder irgendwas in der Art. Das könnte uns eine Weile aufhalten.«
»Hat’s in dieser Nacht in Stuyvesants Büro irgend so was gegeben?«
»Nein«, antwortete Julio. »Stuyvesant ist ein sehr ordentlicher Mann.«
»Sie sind ziemlich lange in diesem Raum gewesen.«
»Nicht länger als sonst.«
»Sie haben einen exakten Arbeitsplan?«
»Der Ablauf ist immer gleich. Wir saugen den Teppichboden, wischen Staub, leeren den Papierkorb, schaffen ein bisschen Ordnung, nehmen uns das nächste Büro vor.«
Schweigen.
»Okay«, sagte Neagley. »Passt jetzt mal auf, Leute. Auf dem Überwachungsvideo ist zu sehen, wie ihr Stuyvesants Büro betretet. Anschließend hat auf dem Schreibtisch ein Brief gelegen. Wir glauben, dass ihr ihn dort zurückgelassen habt, weil jemand euch dazu aufgefordert hat. Vielleicht hat er euch weisgemacht, das sei nur ein harmloser Scherz, oder versichert, es sei okay, das zu tun. Und das war okay. Bisher ist kein Schaden entstanden. Aber wir müssen wissen, wer euch diesen Auftrag erteilt hat. Denn zu diesem Spiel gehört auch, dass wir das rauskriegen. Und nun seid ihr dran, uns zu sagen, wer euer Auftraggeber war. Sonst ist das Spiel vorbei, und uns bleibt nichts anderes übrig, als davon auszugehen, dass ihr aus eigenem Antrieb gehandelt habt. Und das ist nicht okay, sondern sehr, sehr schlecht; denn es bedeutet eine Drohung gegen den zukünftigen Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten. Und dafür könnt ihr ins Gefängnis kommen.«
Langes Schweigen.
»Wird man uns entlassen?«, fragte Maria.
»Haben Sie denn nicht zugehört?«, sagte Neagley scharf. »Sie kommen ins Gefängnis – außer Sie sagen uns, in wessen Auftrag Sie den Brief hineingeschmuggelt haben.«
Die Gesichter der drei wirkten wie zu Stein erstarrt. Ausdruckslose Blicke.
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