Tödliche Absicht
er? Auf der anderen Straßenseite parkte ein fabrikneuer Mercury Sable hinter einem rostigen VW Käfer. Der rote Sable war bestimmt ein Leihwagen. Wer hatte ihn gemietet? Irgendjemand, der nur heute zu einem bestimmten Zweck in Georgetown war? Reacher überquerte die Straße und warf einen Blick auf den Rücksitz. Kein Mantel, kein Hut. Keine aufgerissene Packung Schreibmaschinenpapier der Marke Georgia-Pacific. Keine Box mit Latexhandschuhen. Und wem gehörte der Käfer? Einem Studenten im letzten Semester? Oder einem Anarchisten aus der Provinz, der zu Hause einen HP-Drucker besaß?
Auf den Gehsteigen waren viele Leute unterwegs. Immer vier oder fünf Personen, die vor ihm hergingen oder ihm entgegenkamen. Jung, alt, weiß, schwarz, braun. Männer, Frauen, junge Leute, die Rucksäcke voller Bücher trugen. Manche hatten es eilig, andere schlenderten gemächlich dahin. Manche waren zum Einkaufen unterwegs, andere kamen vom Einkaufen. Wieder andere sahen aus, als hätten sie kein bestimmtes Ziel. Er musterte sie alle aufmerksam aus dem Augenwinkel, ohne etwas besonders Auffälliges an ihnen zu bemerken.
Während er weiterging, kontrollierte er von Zeit zu Zeit die Fenster über sich. Hier gab es unzählige. Georgetown war ein Paradies für Heckenschützen. Ein Labyrinth aus Häusern, Hinterhöfen und engen Gassen. Aber mit einem Gewehr war gegen eine gepanzerte Limousine nichts auszurichten. Dafür hätte ein Attentäter eine Panzerabwehrrakete gebraucht, von denen es eine reichliche Auswahl gab. Die bevorzugte Waffe wäre eine AT-4 gewesen. Diese Waffe bestand aus einem neunzig Zentimeter langen Glasfaserrohr, das ein drei Kilo schweres Projektil verschoss, das bis zu achtundzwanzig Zentimeter Panzerstahl durchschlug. Das Einschussloch blieb verhältnismäßig klein, sodass die eigentliche Detonation sich im Inneren des getroffenen Fahrzeugs abspielte. Armstrong wäre zu schwebenden Kohlenstoffteilchen atomisiert worden. Reacher sah zu den Fenstern hinauf. Er bezweifelte ohnehin, dass das Dach einer Limousine stark gepanzert sein würde, und nahm sich vor, Froelich danach zu fragen. Auch, ob sie oft im Wagen ihres Schützlings mitfuhr.
Er bog um eine Ecke und erreichte das obere Ende von Armstrongs Straße. Beobachtete wieder die Fenster vom ersten Stock aufwärts. Für eine bloße Demonstration brauchte man keine Panzerabwehrrakete. Ein Gewehrschuss hätte nur symbolischen Charakter besessen, aber bewiesen, was zu beweisen war. Abgesplittertes Panzerglas an der Seitenscheibe von Armstrongs Limousine wäre eine wirkungsvolle Demonstration gewesen. Schon ein Gewehr, das Farbkugeln verschoss und rote Kleckse auf der Heckscheibe hinterließ, wäre eine Message gewesen. Aber hinter den Fenstern im ersten Stock lauerte niemand, so weit er sehen konnte. Sie waren sauber, mit Vorhängen versehen und wegen der Kälte geschlossen. Die Häuser selbst wirkten still und friedlich.
Eine kleine Ansammlung von Neugierigen verfolgte, wie die Secret-Service-Agenten einen Sichtschutz zwischen Armstrongs Haus und dem Randstein errichteten. Er glich einem lang gestreckten, schmalen weißen Zelt. Schweres weißes Segeltuch, völlig undurchsichtig. Ein Ende lag flach am Ziegelmauerwerk um Armstrongs Haustür an. Das andere war so geformt, dass es genau dem Profil seiner Limousine entsprach. Ihre hintere Tür ließ sich darin öffnen. Armstrong würde vom Haus in die gepanzerte Limousine gelangen, ohne gesehen zu werden.
Reacher schlenderte unauffällig um die kleine Ansammlung von Neugierigen. Sie wirkten ungefährlich. Hauptsächlich Nachbarn, vermutete er. Er spazierte wieder die Straße entlang und hielt Ausschau nach offenen Fenstern in oberen Stockwerken. Sie wären wegen des kalten Wetters aufgefallen. Aber er sah keine. Er ließ seinen Blick über die Müßiggänger gleiten, von denen es hier viele gab. Jeder zweite Laden war ein Coffee Shop, in dem Leute die Zeit vertrödelten. Sie tranken Espresso, lasen Zeitungen, telefonierten mit Handys, schrieben in dicke Notizbücher, spielten mit elektronischen Notizbüchern.
Er entschied sich für einen Coffee Shop, von dem aus er die Straße in Richtung Süden, aber auch ein wenig nach Osten und Westen sehen konnte, besorgte sich schwarzen Kaffee und nahm an einem Fenstertisch Platz. Um zehn Uhr fünfundfünfzig kam ein schwarzer Suburban die Straße entlang und parkte am Randstein unmittelbar nördlich des Sichtschutzes. Der nächste Wagen war ein schwarzer Cadillac, der an der
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