Tödliche Absicht
Spuren ab: von Absätzen und Zehen, Knien und Ellbogen. Sie waren keine fünf Tage alt, stammten nicht von ihm. Das wusste er ganz bestimmt. Und in der Luft hing ein schwacher, gerade noch wahrnehmbarer Geruch nach Schweiß, nervöser Anspannung, Waffenöl, maschinell bearbeitetem Stahl und neuen Messingpatronen. Aber als er sich langsam einmal um die eigene Achse drehte, war der Geruch verschwunden, als habe es ihn nie gegeben. Reacher legte seine Fingerspitzen auf die Glocken, als könnte er sie so dazu zwingen, die Vibrationen der Vergangenheit preiszugeben.
Durch die Schalllöcher drangen nicht nur Sonnenstrahlen, sondern auch Geräusche herein. Reacher konnte die Stimmen von Leuten hören, die zwanzig Meter tiefer am Fuß des Kirchturms standen. Er trat näher heran und blickte mit zusammengekniffenen Augen nach unten. Die Schallbretter, verwitterte Holzlamellen, waren in einem Winkel von ungefähr dreißig Grad in einen Holzrahmen eingelassen, sodass er die Ränder der Menge erkennen konnte, nicht aber ihre Masse. Am Rand der Rasenfläche sah er Cops, die in Abständen von dreißig Metern mit dem Rücken zur Menge standen und die Zäune im Auge behielten. Er sah das Gebäude des Gemeindezentrums und die Wagenkolonne, die mit laufenden Motoren geduldig auf dem Parkplatz wartete. Er sah die Häuser in der Umgebung. Er sah alles Mögliche. Dies war eine gute Feuerstellung. Das Schussfeld war eingeschränkt, aber andererseits genügte ein einziger Schuss.
Er schaute nach oben. Entdeckte in der Decke der Glockenstube eine weitere Falltür, zu der ebenfalls eine Leiter hinaufführte. Neben der Leiter waren Erdungsleitungen aus breiten Kupferbändern montiert, die vom Blitzableiter herunterführten. Das Kupfer war mit einer dicken Grünspanschicht bedeckt. Bei seinem ersten Besuch hatte Reacher diese zweite Leiter ignoriert. Er wollte nicht ins Freie klettern und acht Stunden in der Kälte ausharren. Aber für jemanden, der an einem sonnigen Nachmittag praktisch unbegrenztes Schussfeld suchte, würde die Falltür attraktiv sein. Sie diente vermutlich dazu, die Flagge wechseln zu können. Blitzableiter und Wetterfahne stammten vielleicht noch aus dem Jahr 1870, aber die Flagge ganz sicher nicht. Sie hatte seit damals eine Anzahl Sterne dazubekommen.
Reacher nahm das Messer wieder zwischen die Zähne und stieg die zweite Leiter hinauf. Sie war nur etwa dreieinhalb Meter hoch. Die Sprossen knarrten und bogen sich unter seinem Gewicht. Auf halber Höhe machte er Halt. Seine Hände lagen auf den Seitenteilen der Leiter. Direkt vor seinem Gesicht befanden sich die oberen Sprossen. Sie waren uralt und bis auf scheinbar willkürlich verteilte Stellen staubbedeckt. Es gab zwei Arten, eine Leiter zu erklimmen: Man konnte sich seitlich festhalten oder mit den Händen die Sprossen umfassen. Er stellte sich den genauen Ablauf vor, bei dem man bei jeder neuen Sprosse die Hand wechselte. Verrenkte sich den Hals und schaute nach unten. Legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Auf den Sprossen waren abwechselnd links und rechts genau solche Abdrücke zu sehen. Irgendjemand war diese Leiter hinaufgestiegen – erst vor kurzem; vielleicht ein, zwei Tage oder auch nur ein, zwei Stunden zuvor. Möglicherweise der Küster, möglicherweise auch nicht.
Er verharrte reglos auf der Leiter. Hier befand er sich oberhalb der Glocken. Wo das Eisen sich zur Aufhängung verjüngte, hatte der Glockengießer sein Monogramm hinterlassen. In zittrigen Linien aus geschmolzenem Zinn stand dort dreimal AHB zu lesen.
Er stieg langsam weiter. Legte seine Fingerspitzen wie zuvor ans Holz über seinem Kopf. Aber hier handelte es sich um dicke Balken, die außen vermutlich mit Blei beschlagen und massiv wie Stein waren. Selbst wenn jemand dort oben herumgetrampelt wäre, hätte er es nicht gespürt. Er kletterte zwei Sprossen weiter, machte einen Buckel und erklomm noch eine Sprosse, bis sein Rücken an der Falltür anlag. Er wusste, dass sie schwer zu öffnen sein würde. Er drehte den Kopf zur Seite, um die Angeln zu begutachten. Sie bestanden aus Eisen. Leicht angerostet. Vielleicht etwas schwer gängig.
Er holte mit dem Messer im Mund tief Luft und katapultierte sich durch die Falltür nach oben. Dann kletterte er rasch die letzten Sprossen hinauf ins blendend helle Sonnenlicht, riss das Messer aus dem Mund und wälzte sich zur Seite. Dabei streifte sein Gesicht das aus Blei bestehende Dach, das nach über hundertdreißig Wintern mit
Weitere Kostenlose Bücher