Tödliche Ewigkeit
weich, er fürchtete, sie könnten nachgeben, und konzentrierte sich ganz auf den Bodenkontakt seiner Füße.
Es war sie.
Die Frau, die er früh am Morgen auf dem Revier gesehen hatte. Sie war die fünf Stockwerke hinaufgekommen, über den Flur gelaufen, von dem aus sie durch die verglasten Wände die anwesenden Ermittler sehen konnte. Und sie war vor seinem Büro stehen geblieben. Sie hatte ihn lange angesehen, offenbar unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Hätte er etwas zu ihr gesagt, nur ein einziges Wort, hätte sie vielleicht geredet! Aber wie gelähmt hatte er sich damit begnügt, sie anzustarren. Und sie war gegangen. Er hätte sie einholen können. Instinktiv hatte er ihr nacheilen wollen, war aber einen Moment lang wie festgenagelt auf seinem Stuhl geblieben. Als er sich erhoben hatte, war es zu spät gewesen.
Jetzt lag sie mit durchschnittener Kehle auf dem Bett.
Ganz automatisch wollte er sich der Leiche nähern, um sie zu untersuchen. Doch zu seiner eigenen Überraschung bewegte sich sein Körper in Richtung Tür. Er verließ den Raum.
Ann beobachtete ihn heimlich. Die Fassungslosigkeit ihres Vorgesetzten verblüffte sie. Dabei war es ja nicht seine erste Leiche … Jeff ließ sich also noch immer vom Schauspiel des Todes berühren. Frank, der etwas zu gelassen schien, sah sich schweigend im Zimmer um, als würde er etwas suchen.
»Was kann ich tun?«, fragte sie ihn.
»Nichts Besonderes. Wir müssen auf den Gerichtsmediziner und die Spurensicherung warten. Solange sie nicht da sind, dürfen wir nichts anrühren.«
Er trat in das angrenzende Badezimmer. Ann war allein mit der auf dem Bett ausgestreckten Frau. Es war nicht die erste Leiche, die sie aus der Nähe sah. Während ihres Studiums an der Polizeiakademie hatte sie im Rahmen eines Praktikums im New Yorker Leichenschauhaus an drei Autopsien teilgenommen. Aber dies hier war anders. Die Frau auf dem hellrosa Laken, deren Gesicht von unveränderter Schönheit war, schien noch lebendig, hier, in ihrem Zimmer, inmitten all der vertrauten Gegenstände – Grünpflanzen, ein Buch über den Himalaja, einige Familienfotos, Haarnadeln und ein kleines ledernes Notizbuch (schrieb sie ihre Träume oder ihre nächtlichen Gedanken auf?). Der Kopf war kaum verdreht, die Augen quollen nicht aus den Höhlen, sondern schienen nachdenklich die Decke zu betrachten. Der ganze Körper machte einen entspannten Eindruck, so als würde sie sich jeden Moment zu Ann umwenden, verwundert über ihre Anwesenheit. Doch in ihrem Hals klaffte eine blutige Wunde wie das groteske Lächeln eines Clowns. Ann spürte, wie die Trauer ihre Brust zerriss. Als Frank aus dem Badezimmer kam, ging sie hinaus zu Jeff Mulligan.
Sein Blick war ins Nichts gerichtet. Er riss sich zusammen, sobald er sie kommen sah. Ann legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Man gewöhnt sich wohl nie daran, was?«
Er verzog verärgert das Gesicht und machte sich mit einer heftigen Bewegung frei.
»Nein, an Ihre Dummheit bestimmt nicht.«
Gekränkt zuckte Ann zurück.
»Warten Sie draußen auf die Gerichtsmediziner und zeigen Sie ihnen den Weg.«
Er ließ sie einfach stehen.
Jeff Mulligan zwingt sich, das Zimmer der Toten zu betreten. Noch nie ist er derart von seinen Gefühlen übermannt worden. Zu Anfang, als junger Detective, hat er angesichts des Todes am Tatort natürlich ein gewisses Unbehagen verspürt. Doch schnell hat er sich einen Schutzpanzer zugelegt. Cop ist ein Beruf, eine Leiche ein Gegenstand, das wichtigste Indiz des Verbrechens. Man muss sie emotionslos und unbeteiligt betrachten. Der letzte Wille eines jeden Ermordeten ist, dass man den verfluchten Kerl findet, der das getan hat. Und um diese Aufgabe zu meistern, muss ein Detective vergessen, dass die Leiche einmal gelebt hat.
Doch heute ist alles anders.
Jeffs Blick schweift durch das Zimmer, meidet aber das Bett, auf dem die Frau liegt.
Darauf ist er nicht vorbereitet gewesen.
Sie heißt Lucie Milton, und er weiß nicht, ob er in diesem Fall wird ermitteln können.
Denn er kennt sie.
Verwundert versucht er diesen absurden Gedanken zu vertreiben: Wie kommt er auf eine solche Idee, nachdem er sie gerade mal ein paar Sekunden gesehen hat? Er überwindet die merkwürdige Kraft, die ihm verbieten will, sie anzusehen, und heftet den Blick auf die Leiche. Doch erfüllt von einer seltsamen Scheu, muss er sogleich die Augen abwenden. Dabei hat er genügend nackte Leichen gesehen, die der Tod in den obszönsten Stellungen
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