Tödliche Ewigkeit
Er hatte sich in Schale geworfen: dunkler Anzug, Seidenhemd, gewienerte Mokassins. Nachdem sie ihren Americano bestellt hatte, fragte er, wie es ihr gehe. Ihr war nicht danach zumute, ihm etwas vorzuspielen.
»Ich mache gerade etwas schwierige Zeiten durch«, gestand sie.
»Kann ich verstehen. Kein leichter Start für einen Detective. Und es ist wirklich kein Honigschlecken, ausgerechnet in die Fänge von Mulligan zu geraten.«
Sie hatte keine Lust, über Jeff zu sprechen.
»Alles ist so neu«, gab sie ausweichend zurück. »Man braucht eine gewisse Eingewöhnungszeit.«
»Die ersten Monate bin ich immer mit einem Knoten im Magen zu Bett gegangen.«
»Ach, wirklich?«
Die spontane Antwort überraschte sie.
»Ach, weißt du, man legt sich allmählich einen Panzer zu. Im Revier darf man seine Schwächen unter keinen Umständen zeigen. Aber es ist ein harter Job. Für alle.«
»Sicher.«
»Hat deine Familie deine Entscheidung gebilligt?«
Sie zog eine Augenbraue hoch. Er war offenbar feinfühliger, als sie gedacht hätte.
»Es bleibt ihr nichts anderes übrig.«
»Dein Vater steht in dem Ruf, ein knallharter Bursche zu sein.«
Sie verspürte auch keine Lust, über ihren Vater zu sprechen.
»Man sollte dem Ruf eines Menschen stets misstrauen.«
»Natürlich.«
Er leerte sein Glas und holte tief Luft.
»Weißt du, Ann, es gab vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt Missverständnisse zwischen uns. Aber ich war immer fest davon überzeugt, dass du ein exzellenter Detective wirst.«
Er beugte sich weit zu ihr vor.
»Du bist wie geschaffen für die Polizei.«
Sie wusste nicht, ob er das ernst meinte oder ihr nur ein Kompliment machen wollte, doch der Satz berührte sie mehr, als ihr lieb war. Frank Millar wollte ihre Differenzen ausräumen. Ein Beweis für seine Großzügigkeit und eine Geste, die besonders an diesem Abend höchst willkommen war! Vor allem waren es ermutigende Worte, die sie gern aus einem anderen Mund gehört hätte. Aus dem ihres Vaters? Sehr viel lieber von ihrem Vorgesetzten, gestand sie sich missmutig ein. Sie schenkte Millar ein Lächeln.
»Danke.«
»Ich schlage vor, wir gehen jetzt essen.«
Er führte sie in ein französisches Restaurant, in dem der jungen Frau eine Karte ohne Preise präsentiert wurde. Frank hatte also beschlossen, sich in Unkosten zu stürzen. Sie tranken zwei Flaschen erstklassigen Bordeaux, der sie leicht euphorisch machte. Am Ende des Essens ergriff er ihre Hand. Sie zog sie nicht zurück. Seit mehreren Monaten schon hatte sie keinen Liebhaber mehr gehabt. Sie begleitete ihn in seine Wohnung.
Er liebte sie mit großer Achtsamkeit, aber auf derart konventionelle Weise, dass sie nur wenig Lust empfand. Man hätte meinen können, er würde eine Lektion abspulen. Als er fertig war, nahm er sie fest in die Arme und machte ihr eine leidenschaftliche Liebeserklärung. Sobald er eingeschlafen war, zog sie sich an und ging nach Hause.
Während der ganzen Zeit, die sie mit ihm im Bett verbrachte, hatte sie ein Bild nicht losgelassen: das von Jeff Mulligans Körper.
In dieser Nacht kehrt besagter Jeff Mulligan spät in seine Wohnung zurück.
Er hat übermäßig getrunken, fühlt sich aber nicht ausreichend benebelt. Nicht einmal der Alkohol kann ihm mehr helfen.
Er möchte Lucie Milton vergessen.
Er möchte vergessen, dass er nichts für sie tun konnte.
»Armer Irrer«, sagt eine Stimme in seinem Kopf, während er sich in der Küche einen letzten Whisky einschenkt. »Sie ist tot und begraben; was hat sie davon, wenn du ihren Mörder findest?«
Sie hat mich aufgesucht.
Sie hat mich um Hilfe gebeten.
Und ich habe nichts tun können. Warum habe ich gezögert, warum bin ich nicht sofort aufgestanden? Ich hätte sie einholen können. Dann wäre sie heute noch am Leben.
»Aber sie ist tot, du Idiot. Tot, tot, tot. Du kannst nichts mehr für sie tun.«
Jeff Mulligan leert sein Glas und füllt es gleich wieder. Warum lässt ihn das Bild dieser Frau nicht los? Weil er davon überzeugt ist, dass man den falschen Mörder verhaftet hat. Seit er Cop ist, hat er so manchen ungelösten Fall erlebt. Er weiß, dass mehr Mörder frei herumlaufen als in den Gefängnissen sitzen … Ein echter Detective freut sich über eine gelungene Untersuchung und grämt sich nicht bei einer Schlappe.
Die Wahrheit ist, dass er von ihr besessen ist. Er denkt an sie. Er träumt von ihr.
Lucie.
Schön bis in den Tod.
Woher rührt dieser Eindruck, dass er sie hätte lieben
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