Tödliche Ewigkeit
ganz sicher, in seiner eigenen Wohnung wahrgenommen hatte.
Wütend warf er den Flakon in die Badewanne, wo er mit einem lauten Knall zerbarst.
Er streckte sich auf Lucies Bett aus und durchblätterte ihr in schwarzes Leder eingebundenes Notizbuch, dessen Inhalt er auswendig kannte. Es war kein eigentliches Tagebuch, sie hielt darin vielmehr ihre Eindrücke, ihre Gedanken fest. Einer darunter hatte ihn ganz besonders fasziniert: »Der Tod soll uns ermahnen zu leben.« Sie zeichnete auch Tiere und wusste mit wenigen Strichen den charakteristischen Ausdruck eines Panthers oder Bären festzuhalten … Sie hatte eine Vorliebe für wilde Tiere.
Er schaltete Lucies Computer ein.
Er wusste, er sollte es nicht tun, er würde erneut leiden. Doch er konnte es nicht lassen, noch einmal in der Korrespondenz zwischen der jungen Frau und ihrem Verlobten herumzustöbern. Sie schrieb an Steve Buchanan zärtliche und sinnliche Mails, und für wenige Sekunden konnte sich Jeff Mulligan vorstellen, dass sie ihm galten. Dann holte ihn die Realität wieder ein und führte ihn auf brutale Weise in eine Welt zurück, in der er niemals gehofft hatte zu lieben oder geliebt zu werden.
Eine Welt, in der er die Frau seines Lebens getroffen hatte, als es zu spät war.
Wie jedes Mal ging er durch alle Phasen des Schmerzes hindurch und las die Briefe vom ersten bis zu dem letzten – diesen mysteriösen Zeilen von Steve, geschrieben in einer Sprache, die Mulligan nicht verstand und für Latein hielt: Noli me tangere. Nondum ascendi ad patrem meum .
Draußen erwachte der Tag. Im Licht des Morgengrauens, das sie so geliebt hatte, schien sich die Gegenwart von Lucie aufzulösen. Mulligan fröstelte plötzlich, er zog seine Jacke wieder an. In dem Augenblick, als er den Computer ausschalten wollte, hatte er plötzlich die Vorahnung, dass er das letzte Mal an diesem Ort war, wo er sich auf so seltsame Weise wohl fühlte. Er fertigte eine Kopie der Festplatte an, vergewisserte sich, dass alles in der Wohnung an seinem Platz war, löschte die Lichter und öffnete die Tür.
Auf dem Gang erwarteten ihn zwei Streifenpolizisten, die Revolver auf ihn gerichtet. Jeff wollte ihnen seine Dienstmarke zeigen, doch sie ließen sogleich die Waffen sinken.
»Ach, Sie sind das, Sergeant … Ein Nachbar hat Geräusche aus der Wohnung gehört und uns verständigt.«
»Er glaubte, es wäre ein Einbruch«, fügte der andere hinzu.
Beide wirkten äußerst verlegen.
Ihnen war durchaus bewusst, dass es keinen legalen Grund für die Anwesenheit des Detective gab.
Und Jeff wusste, dass nichts auf der Welt sie davon abhalten konnte, ihren ordnungsgemäßen Bericht zu schreiben.
Und damit war seine Laufbahn als Cop wohl beendet.
IRGENDWO IN DER WÜSTE VON JUÁREZ
Raúl schrak aus dem Schlaf auf, als zwei Aufseher in sein Zimmer stürmten. Es war sehr früh am Morgen. Ohne auf seine Fragen zu antworten, zerrten sie ihn in einen kleinen Kastenwagen und fuhren ihn in die verbotene Zone. Diese war vom restlichen Teil des Camps durch eine lange Betonmauer abgetrennt, deren einziges Tor durch Panzertüren verschlossen war. Einer der Wärter öffnete sie mit einem Digitalcode. Dahinter erhob sich ein Gebäude, das sich durch sein nüchternes, abweisendes Äußeres von den anderen unterschied. Mit seinen nackten grauen Mauern und schmalen Fenstern erinnerte es an einen Bunker. In einem langen Korridor mit elfenbeinfarbenen Wänden begegnete Raúl zwei Männern und einer Frau in Kitteln, die ihn an Krankenpfleger denken ließen. Doch er sah keinen Kranken. Man führte ihn in ein Büro, wo ihn ein junger Mann erwartete. Auf die Brusttasche seines Kittels war sein Name genäht: PROF. STEVE BUCHANAN. Er bot ihm einen Stuhl an, wobei er ihm ein freundliches Lächeln schenkte, das freilich nicht zu seinem sonderbar leblosen Blick passte.
»Wir werden uns ein wenig unterhalten.«
Schweigend nahm Raúl Platz. Seit seiner Entführung war er lediglich anderen Gefangenen begegnet, mit denen nur oberflächliche Unterhaltungen gestattet waren, sowie seinen brutalen Wächtern, die auf keine Fragen antworteten. Vielleicht würde er jetzt endlich etwas erfahren.
»Zunächst einmal möchte ich Ihnen für Ihre Anwesenheit hier danken«, begann Buchanan.
Raúl spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Ging es diesem Typen nur darum, sich über ihn lustig zu machen?
»Mir ist natürlich klar, dass Sie von Ihrer Warte aus betrachtet keine andere Wahl hatten. Das ist für
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