Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
Schwingungen, die sich wie in einem Resonanzboden über die gesamte Konstruktion ausbreiteten. Um diese Zeit waren die Passanten zahlreich, von Zeit zu Zeit spürte er ein sanftes Heben und Senken.
Heute Mittag hatte er den Steg zum ersten Mal an diesem Tag überquert. Da hatte es in seiner Welt noch eine Sonne gegeben. Heben .
Nun stand er in der Mitte der Brücke, dort wo die Trossen das Geländer berührten, spürte die Kühle und die Feuchtigkeit des Stahlgeländers unter seinen Händen, und starrte auf den Fluss. Die Sonne hatte sich hinter die Glastürme zurückgezogen. Aber nicht nur deswegen fror Paul. Senken .
Der Main lag unter ihm, braun und zäh wie geschmolzene Schokolade. Paul wusste, dass er nach Westen floss, Richtung Rüsselsheim und Wiesbaden. Aber heute sah man dies beim besten Willen nicht, so träge wälzte sich der Strom in seinem künstlichen Bett.
Ich habe die Orientierung verloren.
Paul spuckte aus und beobachtete, wie der weiße Schaum in Spiralen auf die Wasseroberfläche zutrudelte und aufschlug.
Ich muss Ordnung in die Dinge bringen.
Der Wind drehte und brachte den Duft von Zimt, Nelken und Koriander mit sich – eine orientalische Opfergabe. Paul drehte den Kopf. Ein paar Schritte weiter lehnte eine Gestalt am Geländer und rauchte.
Er sah wieder auf das Wasser. Unter dem Steg tauchte der Bug eines Schiffes auf. Zwei Signallichter thronten auf den Aufbauten. Ein Mann in blauer Uniform stand breitbeinig an Deck, seine Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen. Er schien das Ufer abzusuchen, dabei hielt er ein Funkgerät am Ohr. Die weißen Buchstaben an der Seite des Schiffsrumpfes schienen Paul zu verhöhnen: POLIZEI.
Er drehte Fluss und Schiff den Rücken zu und schloss die Augen. Die weißen Buchstaben tanzten vor seinem inneren Auge: POLIZEI.
Die blonde Frau, mit der sich Kanther getroffen hatte, war Polizistin. Paul hatte, nachdem er ihr gefolgt war, in der Dunkelheit gewartet, bis das Licht in ihrem Fenster erloschen war. Erst dann hatte er den Mut gefasst, die Namensschilder an der Eingangstür in Augenschein zu nehmen. Er erhielt nur eine Bestätigung dessen, was er längst wusste. Während er ihr vom Kombucha zum Polizeipräsidium gefolgt war, hatte sie ihr Handy benutzt und dabei ihren Namen preisgegeben. Nora Winter.
Die Feststellung, dass Kanther sich mit einer Polizistin traf, hatte Paul furchtbar wütend gemacht. Anfangs. Dann hatte er sich zur Vernunft gerufen: Was bedeutete diese Zusammenkunft schon? Nicht das Geringste. Die Polizistin hatte, während sie auf Kanther wartete, den Drachentöter gelesen. So viel hatte Paul erkannt, als er einen flüchtigen Blick durch die Scheibe des Lokals geworfen hatte. Sie hatte Kanther angelächelt, als sie sich mit ihm im Kombucha unterhalten hatte. Die beiden hatten miteinander gelacht.
Sie ist in Kanther verliebt! Nein. Nein, das nicht. Aber die Polizistin und der Mentor konnten sich gut leiden. Sie waren offenbar Freunde.
Zu dieser Ansicht war er gelangt, zumindest bis Kanther ihn zu diesem Treffen bestellt hatte. Bis Kanthers Agentin ihm in ihrem Büro gegenüberstand, völlig ahnungslos und mit Todesangst in den Augen. Und bis die Polizistin mit ihren zwei schwer bewaffneten Begleitern am Ende der Straße aufgetaucht war, wie in einem Western-Showdown, mit der Absicht, das Kombucha zu stürmen und ihn festzunehmen. Oder Schlimmeres.
Kanther hatte ihn betrogen. Der Mentor hatte ihn an die Polizei verraten und in eine Falle gelockt. Er und seine Freundin, die Polizistin.
Paul öffnete die Augen. Die Gestalt auf der anderen Seite der Brücke war verschwunden. An der Stelle, wo sie am Geländer gelehnt hatte, lag ein Fetzen Papier auf dem Boden. Paul ging hinüber und hob ihn auf, bevor ein Windstoß ihn forttrug.
Die sorgfältig zusammengefaltete Titelseite einer Boulevardzeitung. Er klappte sie auf und las.
Minderjährige Zeugin in Prostituiertenmord soll ausgewiesen werden. Grünen-Stadträtin Wiesener: »Agniezka A. muss bleiben dürfen.«
Polizeipsychologin Winter: »Kind schwer traumatisiert.«
Direkt unter der reißerischen Titelzeile das Bild eines kleinen Mädchens, das verängstigt in die Kamera sah, einen rosa Plüschhasen im Arm.
Paul lächelte. Ein kleines Mädchen also war es gewesen, das sich in der Kommode versteckt hatte.
Er betrachtete das Spielzeug. Da gab es noch etwas, was er herausfinden musste. Ein nebensächliches Detail, aber unerlässlich, um das Bild in seinem Kopf zu
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